MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING
: NOCKENWELLEN

Richard van Camp: „Dreckige Engel“. Aus dem kanadischen Englisch von Ulrich Plenzdorf. Aufbau TB, Berlin 2004. 170 S., 7,50 €

Fort Simmer ist das Letzte. Die Indianersiedlung liegt so weit im Norden von Kanada, dass der Winter acht Monate dauert – und wenn man jung ist, noch länger. Zuerst hat man noch seinen Spaß daran, in den kalten Nächten Skidoos und Autos mit Eisbrocken zu bewerfen. Dann lernt man, sich jedes Wochenende zur Musik von Slayer und Monster Magnet gnadenlos zu betrinken, und wenn man sehr großes Glück hat, schafft man es vielleicht später aufs College nach Yellowknife. Dort ist von der Sonne allerdings auch nicht mehr zu sehen.

„Dreckige Engel“ heißt Richard Van Camps Sammlung von miteinander verbundenen Kurzgeschichten. Der kanadische Autor, Jahrgang 71, gehört zum Stamm der Dogrib und hat bereits in seinem Debüt „Die ohne Segen sind“ über das trostlose Leben der indianischen Jugendlichen in den Northwest Territories geschrieben. Jetzt werden seine Helden erwachsen, und für Larry und Clarence heißt das in erster Linie, ein bisschen Geld zu machen. Also verkaufen sie Gras, Alkohol und Satellitenschüsseln und träumen von dem Leben, das sie sich aus den glänzenden Bildern ihrer Pornohefte zusammengesetzt haben. „Meine Eier sind scharf wie ein 340-PS-Motor mit zwei oben liegenden Nockenwellen“, deliriert Larry in einer Überdosis aus Testosteron und Verzweiflung, während ihm in Fort Simmer der kalte Wind ins Gesicht bläst. „Doch diese Stadt hilft keinem. Sie zeigt dir nur die Zähne.“

Das einzige Problem dieses schnellen und schmutzigen Buchs ist allerdings die deutsche Ausgabe. Der Schriftsteller Ulrich Plenzdorf hat „Dreckige Engel“ übersetzt, weil ihn die „unkonventionellen Helden“ an den „berühmten Protagonisten Edgar Wibeau“ aus seinem Theaterstück „Die neuen Leiden des jungen W.“ erinnern. Das alleine wäre schon peinlich. Doch die Übersetzung ist nicht einmal gut – und weicht auch noch vom ursprünglichen Text ab. Offenbar traut Van Camps deutscher Verlag den Geschichten des Dogrib- Indianers nur, wenn ein weißer Mann sie gründlich überarbeitet.

SCHLANGENNEST

Hans Werner Kettenbach: „Kleinstadtaffäre“. Diogenes, Zürich 2004. 504 S., 22,90 €

Hans Werner Kettenbach gehört zu den Autoren, die man „etabliert“ nennt, und die dennoch – zumindest aus der Perspektive des Feuilletons – eine Art Randexistenz führen. Keine Auszeichnungen, keine Skandale, keine Alterswerke. Nur Bücher. Genauer gesagt sind es zwölf Romane. Dazu kommt eine stattliche Liste mit Hörspielen und Drehbüchern. Das alles ist in den letzten 25 Jahren entstanden. Hans Werner Kettenbach, der 1928 geboren wurde, hat nämlich zunächst eine bemerkenswerten Karriere im Journalismus hinter sich gebracht, vom Aushilfsschreiber beim Kicker bis zum stellvertretenden Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers. 1978 schrieb er sein Debüt „Grand mit Vieren“, und jetzt ist „Kleinstadtaffäre“ erschienen, das wie die meisten von Kettenbachs Büchern eher lose mit dem Genre der Kriminalliteratur verbunden ist.

Der eitle Schriftsteller Wallott wird zu einer Lesung in die kleine Stadt Merzthal eingeladen, und weil das provinzielle Lesepublikum ihn nicht mit der gewohnten Begeisterung empfängt, beschließt er, den Ort zum Gegenstand eines Schlüsselromans zu machen, als „Schlangennest“, in dem „alle menschlichen Untugenden und Laster sich in Reinkultur herausbilden“. Also bleibt Wallott für ein paar Tage zur Recherche, und plötzlich befindet er sich mitten in dem Roman, den er eigentlich erst schreiben wollte. Misstrauisch beäugen die Bewohner der Kleinstadt den Zugereisten, in der Kneipe wird ihm das Bier verweigert, und als dann der Fabrikant Keppler, der Pate von Merzthal, tot in seiner Villa liegt, wird der Schriftsteller konsequenterweise zum Hauptverdächtigen.

Hans Werner Kettenbach lässt seinen Erzähler, einen jungen Lokalzeitungsredakteur, im Rückblick jeden einzelnen Schritt Wallotts sorgfältig nachvollziehen. So schreitet er bedächtig und mit leicht nostalgischem Blick noch einmal die kleine Welt der deutschen Provinz ab, die es in dieser reinen Form nur noch in Büchern gibt. Über die wirklichen Kleinstädte mit ihren verwaisten Ortskernen, tristen Einkaufsparks und weiträumigen Schlafsiedlungen schreibt dagegen kaum jemand Romane. Vielleicht ist es dort einfach zu langweilig.

ABSCHIEDSBRIEF

Nina Jäckle. „Noll“. Berlin Verlag. 192 S., 18 €

Er räumt die Küche auf, und er weiß, dass es das letzte Mal ist. Arnold Schrader, genannt Noll, hat sich entschieden. Er wird sich umbringen, am Dienstag um 16 Uhr. In der verbleibenden Zeit nimmt er Abschied von seinem Alltag und den Erinnerungen, die er in 58 Jahren angesammelt hat.

In ihrem Roman „Noll“ spürt Nina Jäckle den Geschichten eines beinahe ganz normalen Lebens nach. Da sind Familiengeheimnisse, verblasste Freundschaften und zerbrochene Liebschaften, ein ungeborenes Kind und Worte, die nicht gesagt wurden: „Jetzt das Leben und gestern das Leben und morgen das Leben, und nichts zu berichten.“ Die Autorin hat eine lakonische und zugleich melodiöse Sprache für diese Verzweiflung gefunden, und die Leere, die sich hinter all seinen Erinnerungen verbirgt, ist der eigentliche Grund für den schwerkranken Noll, sein Auto in die Garage zu fahren und den Motor laufen zu lassen: „Einen natürlichen Tod, den muss man erst einmal hinbekommen.“

Nina Jäckle hat einen schönen und doch ziemlich traurigen Roman geschrieben, den man über weite Strecken gerne liest. Nicht zuletzt deshalb, weil die Perspektive relativ ungewöhnlich ist. Jäckles Kollegin Julie Zeh hatte sich nämlich vor einiger Zeit zu Recht darüber gewundert, dass die meisten der so genannten jungen deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ihren Romanen „um die eigene Person kreisen“ – und „Noll“, dieser Abschiedsgesang eines in die Jahre gekommenen Mannes, ist zunächst einmal ein gelungenes Beispiel dafür, dass es auch anders geht. Schade nur, dass Nina Jäckle sich im zweiten, kürzeren Teil des Romans doch nicht darauf verlassen will. Noch einmal setzt sie an, um Nolls Leben und Sterben zu rekonstruieren, diesmal aus der Perspektive einer jungen Frau, die, na, so was, dann auch noch „Papier nimmt“ und „nicht zu schreiben aufhört“. Der Abschiedsbrief, dann doch. Zum Schluss soll also die Literatur all das in Ordnung bringen, was im Leben nicht funktioniert hat. Das ist ein wenig kitschig.

WASSERMUSIK

Patrick Boman: „Josephat Peabody geht fischen“. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Zebu Verlag, Frankfurt am Main 2004. 192 S., 12,90 €

Angesichts des anhaltenden Branchenpessimismus ist die Gründung eines neuen Verlages immer noch bemerkenswert. In Frankfurt am Main gibt es seit diesem Frühjahr den Zebu Verlag, der sich auf dem internationalen Buchmarkt nach – mutmaßlich preisgünstigen – Lizenzen umsieht. Die Ankündigung einer „literarischen Weltreise in Romanen, biografischen Texten und Reportagen“ klingt zwar etwas bieder, aber dafür ist eines der beiden Bücher, die bereits in der Reihe „zebu crime“ erschienen sind, ganz großartig.

Patrick Boman ist in Schweden geboren, lebt heute in Frankreich und hat mit „Josephat Peabody geht fischen“ einen Krimi über einen englischen Kolonialbeamten geschrieben, der um die Jahrhundertwende in Südindien stationiert ist. Inspektor Peabody ist seinen Kollegen ein Dorn im Auge, weil er nicht ganz so viele Vorurteile gegenüber den indischen Untermenschen pflegt wie sie selbst. Das ist allerdings auch schon der einzige nette Charakterzug an Peabody, der in erster Linie fett, faul und verfressen ist und auch keine Bedenken hat, die Frau eines Verdächtigen in seinem Hotelzimmer zum Beischlaf zu nötigen. Dieser Peabody also ist ein echter Unsympath, und sein aktueller Mordfall ist auch nicht sehr appetitlich. Ein Rechtsanwalt ist Opfer eines grausamen Rituals geworden: „Kreuzförmige Kerben auf Brustkorb und Unterleib, längs einer gedachten Mittellinie, der Penis der Länge nach aufgeschlitzt, wie eine aufgeplatzte Brühwurst, und, besonders markant, das linke Bein – es war unterhalb des Knies abgesägt.“

Peabody verschlägt das nicht einmal den Appetit, zumindest gönnt er sich erst einmal eine Extraportion scharfe Gewürzbällchen zum zweiten Frühstück und schleppt dann seine 250 Pfund Lebendgewicht schwitzend in den Schatten der nächsten Palme. Wer also wissen will, wie sich das Britische Empire durch seine Beamten selbst zugrunde gerichtet hat, und sich nicht daran stört, dass bei Patrick Boman ständig riesige Ratten durch die Szenerie huschen – der bekommt mit „Josephat Peabody geht fischen“ jetzt genau das Buch, auf das er gewartet hat, seit er die letzte Seite von T.C. Boyles „Wassermusik“ gelesen hat.

NACHTRUHE

Chuck Palahniuk: „Lullaby“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Manhattan/Goldmann, München 2004. 254 S., 19,90 €

Ein ganz anderer Fall von unterhaltsamer Geschmacklosigkeit ist „Lullaby“, der letzte ins Deutsche übersetzte Roman des amerikanischen Schriftstellers Chuck Palahniuk. Carl Streator, etwa vierzig Jahre alt und Journalist, sitzt an einer reißerischen Reportage über den plötzlichen Kindstod und stößt dabei auf einen merkwürdigen Zufall. In sämtlichen verwaisten Kinderzimmern, die er mit professioneller Gründlichkeit und einem abgeklärten Blick für Details inspiziert, liegt das gleiche Buch – ein Band mit „Kinderliedern aus aller Welt“: Streator entdeckt, dass sämtliche Babys offenbar gestorben sind, nachdem ihre Eltern ihnen ein afrikanisches Schlaflied vorgesungen haben. Nach einigen etwas leichtsinnigen Experimenten mit ebenfalls tödlichem Ausgang ist der Reporter sich sicher, dass er auf einen ziemlich gefährlichen, tja: Zauber gestoßen ist.

Ähnlich wie in seinem erfolgreich verfilmten Roman „Fight Club“, in dem frustrierte Angestellte in den Kellern alter Industriegebäude mit bloßen Fäusten aufeinander losgehen, erzählt Palahniuk in „Lullaby“ auf makabre Art und Weise davon, wie ein archaisches Ritual die moderne Gesellschaft unterwandert. Erst im Zeitalter der Massenmedien kann das afrikanische Lied seine volle Wirkung entfalten: „Der neue Tod, diese Seuche, kann von überall her kommen. Ein Song. Eine Lautsprecherdurchsage. Eine Fernsehnachricht. Eine Predigt. Ein Straßenmusiker. Eine Dauerwerbesendung kann den Tod bringen.“ Um das Schlimmste zu verhindern, macht Streator sich auf die Suche nach sämtlichen Ausgaben des Liederbuches. Er unternimmt eine lange Reise durch die Trailer Parks, Suburbs und Apartmentanlagen, deren Bewohner ihr Heil im Dauergespräch der Talkshows, im ununterbrochenen Klagegesang der Selbsthilfegruppen und in den Plädoyers der Sammelklagen suchen. „Big Brother beobachtet nicht. Er haut auf die Pauke“, schreibt Palahniuk in diesem kleinen zynischen Meisterwerk über eine Gesellschaft, in der das soziale Rauschen immer unerträglicher wird – und die Aussicht auf eine lange, lange Nachtruhe immer verführerischer.