Frisch verliebt zum nächsten Sozialforum

Auf der Suche nach der verlorenen Alternative: Gewerkschaften und Attac kommen auf dem „Perspektiven-Kongress“ in Berlin prächtig miteinander aus – und entwerfen eigene Konzepte für die Zeit nach einer Trendwende in der Wirtschaftspolitik

AUS BERLIN NIKOLAI FICHTNER

„Das Bündnis hat gezeigt, dass es konkrete Alternativen zur Agenda 2010 bieten kann.“ Sven Giegold von Attac ist nach einem langen Kongresstag erschöpft, aber zufrieden. Giegold hofft darauf, dass sich nach diesem Wochenende in ganz Deutschland soziale Bündnisse bilden; nächstes Jahr soll es sogar ein „Deutsches Sozialforum“ geben.

Giegold ist einer der Organisatoren des „Perspektiven“-Kongresses, der an diesem Wochenende in der Technischen Universität Berlin stattfindet. Rund 70 Organisationen, darunter Gewerkschaften, Globalisierungskritiker, Sozial- und Umweltverbände wollen mit dem Kongress Alternativen zur Agenda 2010 der Regierung aufzeigen – und damit den Vorwurf widerlegen, die Proteste seien konzeptlos. Über 2.000 Besucher verfolgen die 125 Podiumsdiskussionen und Workshops.

9 Uhr, Raum H106. Giegold und Detlef von Larcher stellen ihre solidarische Einfachsteuer vor. Sie wollen Steuerschlupflöcher streichen. So könnten 12,1 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen werden. Ein Richtungswechsel an diesem einen Punkt wäre bereits ein großer Sieg, erwidern sie einem jungen Kritiker, der sie für zu konservativ hält. Dem Herrn im Sakko, der die politische Umsetzbarkeit anzweifelt, geben sie Recht. Die Hegemonie des Neoliberalismus könne noch nicht gebrochen werden. „Doch wenn die Trendwende kommt, brauchen wir umsetzbare Konzepte.“

10 Uhr, Raum MA544. Über 40 Interessierte drängen sich in dem kleinen Seminarraum, als der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert seine Folien mit den Statistiken zur Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland auflegt. Sie lernen, dass Steuersystem und Sozialversicherung zu einer „immer stärkeren Umverteilung von unten nach oben geführt haben“. Borchert will die Einführung einer Bürgerversicherung. Diese könnte zum „großen Projekt der Linken“ werden.

17 Uhr, Raum H104. „Hauptsache Arbeit?“ heißt das Thema der Diskussion. Einer der knapp 200 Zuhörer fragt nach der Unterstützung der Gewerkschaften für eine Kampagne zur 30-Stunden-Woche. Klaus Wiesehügel, Chef der IG Bau, reagiert: „Im gegenwärtigen politischen Klima, in dem nur über Arbeitszeitverlängerung geredet wird, ist so ein Vorschlag kaum umsetzbar.“

Eine Kampagne gegen eine solche Arbeitszeitverlängerung dürfte das Bündnis in diesem Jahr genauso beschäftigen wie das Eintreten für mehr Steuergerechtigkeit. Auch über die nächsten Schritte sind sich die Ver.di-Vizechefin Margret Mönig-Raane und Sven Giegold einig: Jetzt müssten bundesweit soziale Bündnisse geschaffen werden. Höhepunkt dieser Entwicklung könnte ein Deutsches Sozialforum nach dem Vorbild der Weltsozialforen in Porto Alegre und Mumbai sein.

Für die Zukunft gibt Mönig-Raane dem Bündnis „eine gute Lebensdauer“. Giegold sieht dagegen einen möglichen Bruchpunkt zwischen den „Materialisten“ und „Post-Materialisten“. „Wenn die Gewerkschaften wieder eine klassische Wachstumspolitik fordern, könnten sich manche Gruppen aus dem Bündnis verabschieden.“ Auf dem Kongress aber ist man sich noch einig – besonders, wenn es um die rot-grüne Politik geht. So seien Alternativen zur Agenda 2010 zwar inzwischen akzeptiert, resümiert Giegold. „Den Glauben an ihre Umsetzung mit dieser Regierung haben die meisten aber verloren.“