das irische busfahrplanspiel von RALF SOTSCHECK
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Das japanische Ehepaar verstand die Welt des öffentlichen irischen Nahverkehrs nicht mehr. Die beiden hatten mit ihrer fast erwachsenen Tochter an der Bushaltestelle vor Dublins Glasnevin-Friedhof gewartet und den Fahrplan studiert. Da der Bus erst in einer Viertelstunde kommen sollte, waren sie eine Haltestelle in Fahrtrichtung weitergelaufen, um sich die Zeit zu vertreiben. Nun schauten sie erneut auf den Fahrplan und stellten fest, dass der Bus noch immer eine Viertelstunde auf sich warten lassen würde.

Der Japaner tippte mit seinem Zeigefinger auf das Dokument mit seinen Zahlenkolumnen, das elegant in einem Plastikgehäuse an der Haltestelle befestigt war, und redete mit einer Miene, die höchste Verwunderung ausdrückte, auf seine Frau ein. Unter den Iren, die ebenfalls auf den Bus warteten, machte sich langsam Heiterkeit breit.

Schließlich erbarmte sich einer und fragte die Touristen aus Fernost, ob er ihnen helfen könne. Wie es denn sein könne, fragte der Japaner in ziemlich gutem Englisch, dass der Bus zur selben Zeit an dieser sowie an der vorigen Haltestelle erwartet würde? Nun war der Ire verwundert, denn er hatte noch nie jemanden getroffen, der den ernst genommen hatte. Als vor ein paar Jahren zum ersten Mal Pläne aufgehängt wurden, schlug ein Leser einer Tageszeitung sie in einem Leserbrief umgehend für einen Literaturpreis in der Kategorie „Science Fiction“ vor.

Das versuchte der Ire nun, dem Japaner zu erklären. Der mutmaßte jedoch, dass es sich um ein Versehen handeln müsse, wenn an zwei verschiedenen Haltestellen identische Fahrpläne hingen. Aber nein, entgegnete der Ire, die Pläne sind an sämtlichen Haltestellen der Busroute identisch. Sie geben nämlich nicht die Ankunftszeit der Busse an, sondern den Moment, wenn sie theoretisch das Depot verlassen. Die Passagiere müssen sich selbst ausrechnen, wann der Bus eintreffen würde. Und wie lange, wollte der Japaner wissen, braucht der Bus vom Depot bis hier? Zwischen 70 und 120 Minuten, antwortete der Ire, es komme ganz auf den Verkehr an. Aber dann seien die Fahrpläne ja vollkommen nutzlos, meinte der Japaner. „Eben“, sagte der Ire.

Diesmal kam aber eine Stunde lang überhaupt kein Bus, obwohl laut Fahrplan in diesem Zeitraum fünf Fahrzeuge vom Depot aus hätten gestartet sein müssen. Dann kam doch noch ein Bus. Der Fahrer hatte schlechte Laune, weil sein Arbeitsgerät hoffnungslos überfüllt war und er an jeder Haltestelle endlos kassieren musste. Früher gab es noch Schaffner, die das erledigten. Ein Bekannter von mir hat diesen Job einen Monat lang gemacht. Dann wurde er entlassen, weil er in der ganzen Zeit keinen einzigen Penny eingenommen hatte. Er hatte stattdessen den Fahrgästen erklärt, dass die Fahrpreise viel zu hoch seien. Bei seiner letzten Fahrt war er unglücklicherweise an einen Businspektor geraten, der seine Meinung nicht teilte.

Die Japaner hatten sich nun in den Bus gezwängt, und eine ältere Dame wollte vom Fahrer wissen, was denn aus den anderen vier Bussen geworden sei, die laut Fahrplan in der vergangenen Stunde auftauchen sollten. „Aber Mädchen“, meinte der Busfahrer, „das sind doch nur Schätzungen!“