Baustelle Individuum

Leben vermeiden? Bei Ingrid Lausund markiert die Auslassung den Kern ihrer Komödien aus der Welt der Shopping-Malls und Politshows. Die Texte entstehen nebenbei in Improvisationen. Ein Porträt

von ALEXANDER HAAS

„Hoffentlich noch tausend Jahre!“ So lange soll es gehen. Sätze wie dieser platzen manchmal unerwartet heraus im Gespräch mit Ingrid Lausund. Der Impuls verschafft sich Raum – und artikuliert sich prompt auch im Lachen, das Besitz von ihrem Gesicht ergreift. Meistens allerdings erscheint die Autorin und Regisseurin Ingrid Lausund eher ernst und nachdenklich. Aber wenn man mit ihr zum Beispiel über die Bühnenbilder ihrer Inszenierungen spricht, genauer gesagt: über die Zusammenarbeit mit der dafür verantwortlichen Beatrix von Pilgrim, dann bricht sich eben der naive Märchenwunsch Bahn.

Was verständlich ist. Zwischen den Texten Ingrid Lausunds, ihren Figuren und den Bühnenräumen, in denen beide ihre komische Existenz fristen, scheint so etwas wie eine grundlegende Harmonie zu bestehen. Den Eindruck vermittelt auch die Inszenierung ihres neuesten Stückes „Das Leben – ein Hobby“, das sie am vergangenen Wochenende im Kölner Schauspielhaus zur Uraufführung brachte. Da kalauern sechs Leute die Zeit tot: Man könnte ja leben müssen. Aber das vermeidet man besser mal, stattdessen feiert man das Prinzip Ellipse. Denn Auslassung markiert den Kern von Lausunds Komödien, rhetorisch und was das Spiel angeht. Für so etwas braucht es Raum, in Köln ist es eine Art Erholungs- oder Altersheim für Mittdreißiger. Beatrix von Pilgrim gestaltet den paradoxen Ort für Lausunds zweite Arbeit auf der Hauptbühne eines deutschen Großstadtheaters (nach „Konfetti“ im Februar am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg) wie ein weitläufiges Puppenhaus für Alte: matte Farben, spießiger 50er-Jahre-Charme. Aus den Ecken zieht es so melancholisch wie bei dem Züricher Team Marthaler/Viebrock. Im Mittelpunkt aber stehen die Schauspieler.

Die 1965 geborene Ingolstädterin, die zunächst Sozialpädagogik studierte, dann in Ulm Schauspiel, ihr Diplom aber dort in der Regieklasse machte, hat längst ihren eigenen Arbeitsstil entwickelt: Schreiben und Inszenieren gleichzeitig. Ihre Texte entstehen parallel zu den Proben. Anfang der Neunziger hat sie so in Ravensburg schon um die 30 Stücke gemacht. Erst mal, so erzählt sie im Gespräch auf den lila Plastikgartenstühlen des Kantinenhofs am Kölner Schauspiel, die rote „Gauloises“-Packung immer griffbereit, „erst mal gibt es nur einen Grundimpuls, eine Grundfrage“. Bis die Proben beginnen, schreibt sie keine Szenen, sondern eher kurze Prosa mit „archetypischen Mustern“ zur Grundfrage. So jedenfalls beschreibt es in einem Text Brian Lausund, ihr Mann, Dauerdramaturg und, wie seine Frau sagt, Verhinderer in Sachen „Kunstscheiße“. Auf den ersten Proben werden die Spieler dann mit diesem Material konfrontiert, füllen es in Improvisationen schnell mit eigenen Erlebnissen. Was anderes ist ja auch noch nicht da. Dann kommt Lausunds „gleichzeitige Baustelle“: Der Stücktext entsteht im Wechsel zwischen Proben und Schreibprozess. Das kann so bis kurz vor Premiere gehen.

Darin dürfte ein Teil des Geheimnisses ihres momentanen Erfolgs liegen: Lausunds Stücke und Abende – jedenfalls die besseren wie „Hysterikon“ oder „Zuhause“ – bewegen sich nah an den Verhältnissen; den Verhältnissen der Schauspieler, aber auch den aktuellen gesellschaftlichen. In den besten Momenten zeigen ihre Texte Individuen, denen gerade das Individuum-Sein problematisch geworden ist, die sich im postmodernen Optionennetz verheddert haben.

„Meine Figuren haben die Wahrnehmung, dass die Welt und die geistigen Systeme nicht mehr geschlossen sind“, sagt sie. In ihrem Hamburger „Hysterikon“ funktionieren diese Welt und ihre Beziehungen nach den Regeln des allgegenwärtigen Supermarkts, das Kölner „Zuhause“ fragt, was dieser Ort in jener Shopping-Mall-Welt noch verloren hat, und „Konfetti“ karikiert in Hamburg den Politbetrieb als grandiose Ablenkungsshow. Nur: Lausunds Spieler verwandeln den Zeitgenossenschaftshorror auf der Bühne in einen genau rhythmisierten und lässig raumbezogenen Krisenzirkus – irgendwo zwischen Loriot, gemäßigtem Helge Schneider und vielleicht noch Buster Keaton.

Es gibt Theatermacher, allen voran immer noch René Pollesch, dessen Arbeit Lausund bewundert, die die allgegenwärtigen Ökonomisierungsprozesse und den Begriff „Inszenierung“ viel radikaler in Frage stellen. Und auch die Kritik spricht trotz großen Lobs mal von „Konsenshumor“ (Süddeutsche Zeitung) oder – mit den Unverbesserlichen – von „Botho Strauß für Arme“ (FAZ). Was aber ist radikal, fragt sie ernst zurück. Und gibt selbst die Antwort: etwas so zu sagen, wie sie es tatsächlich meine. „Mein ich das so, wie es jetzt gesagt wird oder nicht.“ Wahrheitssuche vor Gesellschaftskritik.

Vielleicht ist sie für Agitprop auch einfach nicht der Typ. Sie hinterlässt, trotz des Lachens, den Eindruck einer ernsthaften Skeptikerin, Antworten bedenkt sie genau – zu leise für den Prater-Anarcho-Stil von Pollesch in Berlin. Außerdem findet sie es eben nach wie vor „grundschön, wenn jemand Geschichten erzählt“. Fragt sich nur, ob man in der Shopping-Mall noch gut zuhören kann.