Fast alles beim Alten

Masuren, das ist eine verträumte Seenlandschaft, radikale Entschleunigung und alles andere als Eventtourismus. Und ab und zu kommen Nostalgietouristen auf der Suche nach ihrer Vergangenheit

von SABINE BERKING

Im Morgengrauen überqueren wir die Grenzen. Im Tal geht über dem Stettiner Haff die Sonne auf. Von nun an ändert sich das Verhältnis von Geschwindigkeit und Zeit. Im Norden Polens gibt es keine Autobahnen. Fünf Stunden und 300 Kilometer weiter östlich erhebt sich über der Weichsel die unzerstörte mittelalterliche Altstadt von Toruń mit der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Johanniskirche. Das gotische Wasserbecken, in dem Kopernikus getauft wurde, ist noch heute zu bewundern.

Uns treibt es weiter gen Osten. Nach insgesamt elf Stunden Fahrt sitzen wir erschöpft und ein wenig schwindlig im Kopf in der Dorfkneipe von Spychowo. Die Kinder stopfen Blaubeermaultaschen mit Sahne in sich hinein, und während H. seine Golonka, eine in Bier gebackene Schweinshaxe, vertilgt, schaue ich bierselig in den weiten masurischen Himmel. Den grauen, realsozialistischen Wohnblock nehme ich kaum wahr. Ich kenne den Ausblick. Er stört nicht mehr. Mit jedem Sommer, den ich hierher reise, versinkt der Block ein bisschen mehr im Grün der Wiesen und Bäume, wie die hölzernen masurischen Bauernkaten, die gemauerten Einfamilienhäuser, die rote Backsteinkirche vor ihm. Die Landschaft tröstet und versöhnt, indem sie großzügig alles aufnimmt.

Masuren – das sind Völker, Kriege, Schlachten – ein eurasisches Grenzland mit slawischen Wurzeln, deutscher Geschichte und polnischer Gegenwart, einst besiedelt von Pruzzen aus dem Baltikum, erobert von Kreuzrittern, die bei Tannenberg von den Polen geschlagen wurden. Das Volk der Masuren wanderte aus dem südlich gelegenen Masowien ein und gab dem Land seinen Namen. Deutsche aus dem Westen, Ruthenen aus der Ukraine, Altgläubige, die aus Russland, und Juden, die aus Westeuropa flohen, suchten hier Freiheit und Glück.

Die ethnische Reinheit war immer eine Schimäre. Nach dem Ersten Weltkrieg stimmte eine Bevölkerungsmehrheit in einem Volksentscheid für die Zugehörigkeit zu Deutschland. Ein Vierteljahrhundert später folgten den fliehenden Deutschen die Trecks der aus der Sowjetunion vertriebenen Polen.

Die Völker kamen und gingen, das Land blieb: 3.000 Seen, dutzende von Flüssen und riesige Wälder, ökologisch intakt, fatalerweise dank der Armut, der politischen Randlage und der rückständigen Landwirtschaft, Kleinbauern eben, die weder Geld hatten und haben noch Sinn darin sahen, Wiesen trockenzulegen, Flüsse zu begradigen, Wälder zu roden. Rund ein Viertel aller Störche dieser Welt nistet hier.

Am Kierwik-See ist fast alles beim Alten. Nebenan müht sich der pensionierte polnische Diplomat wie in jedem Jahr, die masurische Heide in einen englischen Rasen zu verwandeln, der ehemalige Pilot der LOT hat sein Sommerhaus renoviert und der Physikprofessor aus Warschau ein neues gebaut. Aus dem Häuschen am Waldrand dringen heuer mystische Trommelgeräusche, und die westfälischen Besitzer des großen weißen Ferienhauses versuchen, mit weiteren Eisengittern potenzielle Einbrecher – im letzten Winter verschwand ein Topfsatz – abzuschrecken. Die Polen setzen längst auf computerisierte Überwachungsanlagen. Die Autos würden, meint der Mann aus Deutschland, in Polen nicht einfach so geklaut, sondern von Hünenkommandos lautlos über Zäune und Tore weggetragen. Ansonsten aber sei es hier wunderbar. In diesem Jahr, sagt der Banker aus Warschau, der uns das Ferienhaus vermietet, sind alle Häuser ausgebucht. Wer billig, ruhig und sicher urlauben will, hat sich 2003 für Polen entschieden.

Die Mehrzahl der deutschen Touristen sind noch immer Nostalgiereisende auf der Suche nach Spuren ihrer eigenen, oft unbewältigten Vergangenheit. Eine schwindende Klientel, die gruppenreisend in den wenigen größeren Hotels in Mikołaiki, Olsztyn oder Gizycko logiert. In die Dörfer fallen sie aus monströsen Luxusreisebussen ein, die durch die engen Dorfstraßen und Baumalleen wie rechteckige Ufos gleiten, und marschieren, mit alten Fotoalben und neuen Digitalkameras bewaffnet, durch die Erinnerungs-landschaft. In Krutyn auf dem Markt, wo Weidenkörbe, Bernsteinschmuck und Keramik verkauft werden, singt eine ältere Dame aus dem Reisebus deutsche Kinderlieder. Die Marktfrauen schweigen – mitleidig. Das Ende der rührseligen Invasion ist absehbar.

Die Krutyna ist die Seele Masurens, ein träumender Fluss, mal Bach, mal Strom, mal See. Sie verbindet über gut 100 Kilometer dutzende von Seen. Tagelang kann man die melancholische Landschaft vom Wasser aus erkunden. Entlang dem Fluss lassen sich Kanus und Paddelboote mieten, zelten darf man fast überall, auf Bauernhöfen und Biwakplätzen. Stromab geht es bis zum Masurischen Meer, dem Spirdingsee. Wir paddeln von Krutyn bis Ukta, vier Stunden durch Wald und Schilf in glasklarem Wasser. An den Flusshängen des Dorfes Wojnowo gibt’s auf einer Anhöhe Kartoffelpuffer, gebratenen Flussfisch, Schaschlik und Seven-up aus der Bauernküche. Die vierstündige Paddeltour zwischen Krutyn und Ukta ist die beliebteste Route am Fluss, mit Wehr und Wassermühle. Hin und wieder taucht wie aus einem Fotoband ein Bauernhof auf, eine Kuh im Wasser, ein Storch auf einer Wiese. Selbst Schwarzstörche kann man hier mit viel Glück entdecken.

Das touristische Herz Südmasurens ist Mikołaiki. Von einer Anlegestelle aus tuckern altersschwache Dampfer über den See. Am Segelhafen gegenüber liegen nagelneue Jachten, Jazz erklingt in Bierkneipen und Edelrestaurants. Ein Hauch Côtes d’Azur im Masur.

Doch kaum einen halben Kilometer weiter wird die Straße wieder zur Baumallee mit Kopfsteinpflaster und führt durch ein von der Geschichte vergessenes Dorf. Statt Menschen haust in Luknajno in einem flachen See die größte Schwanenpopulation Europas. Vor einem Event- oder Aktivurlaub in den Masuren sei gewarnt!