Vom Maulwurf zum Adler

Zwei Wochen Hatha-Yoga auf Amorgós können der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein – vor allem mit sich selber. Aus der meditationsfreundlichen Stille des Hafenorts wird zwischendurch hinausgewandert, auf einem der Eselspfade

Am Ende der Reise habe ich glücklich wiedergefunden, was ich verloren glaubte

von HANNE BAHRA

Normalerweise hätten mich keine zehn Pferde dazu gebracht, mit zwanzig anderen Leuten zum Yogatrip auf eine Insel zu reisen. Ich hasse Gruppenausflüge, noch verdächtiger ist mir kollektive Spiritualität. Eines Tages aber schockte mich mein Spiegelbild: Da welkte Haut, wuchs Speck auf den Hüften. Wo war der Glanz meiner Augen, wohin der Tau auf den Lippen? Seele und Körper lechzten nach Bewegung.

Nun schlingere ich über die nachtschwarze Ägäis. Windstärke 7 peitscht die Gischt bis auf das Oberdeck der fünfstöckigen Fähre. „Apollon“ schwankt. Den Yogis – Lehrern, Ärzten, Managern, Studenten aus Berlin – ist speiübel. Petra klammert sich an ihre Lektüre „Yoga ab 40 – Altern mit Würde und Grazie“. Von wegen!

Nur Yogalehrer Rolf steht gelassen kopf auf dem Zwischendeck und demonstriert die perfekte Beherrschung von Geist und Materie. Sein athletischer Körper ignoriert jede Außenbewegung. „Kannst du auch lernen“, grinst der Guru.

Nach zehn Stunden Überfahrt endlich tauchen die karstigen Felsen von Amorgós, einer kleinen Insel am Ostrand der Kykladen, aus dem Frühnebel auf. Die Häuser in der Bucht von Ormos Ägiáli schimmern im Morgenlicht wie Alabaster. Über die rote Erde ergießt sich ein Blütenmeer. Noch duftet es nach Thymian, Salbei und Minze, bald aber wird die Sommersonne das schmale, etwa 29 Kilometer lang gestreckte Eiland in Stein verwandeln. In weißen Marmor, in roten und grauen Schiefer. Drauf hocken Hirtenhäuschen, Ziegenpferche aus Bruchsteinmauern und Dutzende kleiner Kapellen. Wir wandern durch meditationsfreundliche Stille vom Hafenort auf einem der zahllose Eselspfade nach Langada.

Die Stufen der Gassen im Bergdorf sind mit weißen Herzen und Blumen bemalt. „Welcome“, mit seinem Lächeln fischt uns der Wirt der kleinen Pension hoch über der Meeresbucht aus den Untiefen gewohnter Unverbindlichkeit heraus. Vor fünfzig Jahren hatte sein Großvater an dieser Stelle ein kleines Kafenion erbaut. Heute treffen sich in Nikos Taverne Urlauber, Einheimische und Zugewanderte.

Etliche sind auf Amorgós hängen geblieben. Petra aus Bayern etwa, die im Hafen ein Kosmetikstudio eröffnet hat, und die alte Engländerin, die seit Jahren unten am toten Flussbett im Haus ohne Stromanschluss wohnt. „Eine magische Insel“, flüstert der trinklustige Maler aus Brüssel. Mit Gläsern voll Raki sehen wir von der Terrasse aus goldrot die Sonne im Meer untergehen.

Als wir am nächsten Tag das erste Mal im Yogaraum stehen, trägt uns keine Magie mehr über physische Grenzen. Kosmische Schwingung will hart erarbeitet sein. Regen rinnt in Bächen über die Gassen, lässt die Konturen der Amphoren vor den Fenstern zerfließen. Wir Yogis aber müssen uns straffen, um auf flachen Matten die „höheren Ebenen“ zu erklimmen. Rolfs sanfte Stimme führt uns dabei durch den Körper. Ich lerne Muskeln kennen, die vorher noch nicht da gewesen sein können. Dabei geht es weder um Schmerz noch um simple Gewalt, sondern um Hingabe und Konzentration.

Der Weg ist das Ziel. Nur eine winzige Streckung des Nackens, etwas mehr Spannung im Po, und allmählich wird aus dem Maulwurf ein Adler, ein „Garuda“, wie Yogis die Stellung nennen. Mit eng umschlungenen Extremitäten halte ich einbeinig die Balance. Nur nicht die Augen schließen!

Bei der nächsten scheinbar einfachen Übung sind Arme und Beine viel zu kurz. Eine leichte Beugung nach hinten, und ein stechender Schmerz jagt durch die Schenkel. Ich suche nicht mehr Erleuchtung, nur noch Halt in den Lichtjahre entfernten Hacken. „Vergiss nicht zu atmen“, ruft Rolf. Ich schnappe nach Luft und falle nach hinten. „Gleich noch einmal“, meint munter der Meister. Ab und zu führt er uns eine Übung in Vollendung vor. Dabei lacht er herzlich über unsere verdutzten Gesichter. Immerhin übt er schon seit 25 Jahren. Doch Stück für Stück verwurzeln wir auch mit der Erde und wachsen gleichsam dem Himmel entgegen. Um in Zukunft ähnlich schwerelos auf dem Kopf stehen zu können wie Rolf, so lerne ich, hilft nur die Annahme des Jetzt und Hier. „Ihr macht es gut, aber ihr könnt es noch besser“, lockt Rolf.

Schon schraube ich meinen Körper noch ein Stück höher in die „Salamba-Sarvangasana“. Dieser Schulterstand kräftigt die Drüsen, durchblutet das Gehirn, soll ein wahrer Jungbrunnen sein. Während wir stöhnen und schwitzen, schon kleinste Bewegungen haben große Wirkung, doziert Rolf ungerührt: „Eine gelungene Asanas ist Stück für Stück erarbeitet, in ständiger Zwiesprache zwischen Kopf und Körper.“ Ich juble wie ein Kind, als ich das erste Mal schwungvoll im Handstand lande. Noch hält mich der Meister am Fuß, schon aber beginne ich, das Leben aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten. Anfangs war ich Maulwurf, in den Asanas werde ich Taube, Schlange, Fisch, Löwe.

Als wir am Nachmittag gemeinsam über Maultierpfade und Ziegenweiden zu den kleinen Kapellen wandern, finden meine Füße neu erworbenen Halt im steilen Geröll. Glanz in den Augen, Tau auf den Lippen. Am Ende der Reise habe ich glücklich wiedergefunden, was ich für immer verloren glaubte.