Wir fahren nach Berlin, jawoll!

Nichts für Weicheier: von einer Radtour in die Hauptstadt und was aus ihr wurde – wenig, und doch ganz viel

Es geht lohoos. Nach Berlin, nach Berlin. Von Bremen mit dem Rad. In fünf Tagen bitte. Macht rund 80 Kilometer am Tag. Ist locker zu schaffen. Vor allem, wenn der Wind so nett von hinten bläst und die Entgegenkommenden alle keuchen. Die Berlin-Fahrer nicht, denn erstens ist Berlin ein schönes Ziel, zweitens wusste der Hauptstädter schon immer, dass er was Besseres ist, und drittens antizipieren selbst Hauptstadt-Besucher dieses von-wo-auch-immer-gegebene Selbstbewusstsein bereits 400 Kilometer vorm Ziel. Solcherart gewappnet saust es sich prima durch den Bürgerpark, nur um die unvermeidlichen Bekannten zu treffen und ihnen wortreich zu erklären, es gehe nach Berlin. In fünf Tagen. Und nein, von wegen zu anstrengend, ach woher denn, für euch etwa? Weicheier.

Es saust sich durchs sonnige Hollerland, den Kuhgraben entlang. Die entfernte Kusine wird eislutschend an der Schleuse gesichtet, es wird gewunken, was von Hauptstadt gegrölt und weitergetreten. Durch wilde und hohe Gräser, vorbei an Mohn- und Kornblumen, vorbei an tschilpenden Spatzen und mampfenden Kühen – Kühe seien durchaus neugierige Tiere, hieß es mal. Nur diese hier, die glotzen trübe und bewegen sich träge. Wenn überhaupt. Aber in der wärmenden Sonne und dem Frieden der sommerlichen Wiesen und Wälder bewegt sich jeder träge. Selbst die neugierigste Journalistin. Es sei denn, sie hat Rückenwind. Und sich was zu beweisen – zu peinlich, wenn das in identische Trainingsanzüge verpackte und am Lilienthaler Ortsausgang zurückgelassene Seniorenpärchen noch vor Fischerhude wieder zum Überholen ansetzte. Zu peinlich. Deshalb wird jetzt auch nicht Halt gemacht. Durst? Halt aus. Du Weichei.

Hinter Fischerhude wird‘s dann aber doch kritisch. „Wo wollt ihr denn hin“, ruft der weibliche Teil eines weiteren Seniorenpärchens den Lance Armstrongs von Bremen zu. „Nach Berlin!“, wird gerufen – und gestoppt. Nach Berlin, nee, wirklich? Ach da warnwerauchmal, wasfürneschönestadt, und als wir noch jung waren, da haben wir sowas auch gemacht, einfach rauf aufs Rad und rin in die Natur. Nich, Erich?

Während Lance Armstrong Nummer Eins mit der Sportschuhspitze im Sand schabt und die Minuten zählt, die die Hauptstadt nun später erreicht wird, präsentiert Lance Armstrong Nummer Zwei noch rasch die hydraulischen Bremsen und den tollen Nabendynamo seiner Kampfmaschine. Lance Armstrong Nummer Eins trinkt heimlich einen Schluck.

Der Tag wird lang, der Hintern wund, die Stimmung mitunter gereizt. Das passiert dann, wenn der langsamere Part des Radler-Duos über die Karte verfügt und über den festen Willen, jede schnurgerade Strecke an viel zu befahrenen Landstraßen zu meiden, der andere Part aber findet, die supermegalomane Rennmaschine müsse mal so richtig getreten werden und die Schnecke da hinten wird schon hinterherkommen. Dann gucken sich Biene, Hase und Reh verstört an, wenn auf einmal lautes Gebrüll ihren häuslichen Frieden stört. „Ey, da vorne rechts. Rähäächts! RECHTS! Verdammt nochmal.“

Was soll man sagen? Das Duo findet einander wieder. Irgendwie. Und Sonne, Sommer, tiefe, duftende Wälder, daneben Gräser, über denen Wärme die Mücken tanzen lässt – all das deckt den Mantel der Liebe über Szenen, die eigentlich gar nicht vorkamen. Nach der Lüneburger Heide, den wunderbaren Elbauen samt Hitzacker und einem Regentag, der in ein Hotel mit Sauna mündet, reicht es dann doch für Uelzen. Für einen Piccolo und zwei Dosen Bier im letzten durchgehenden Zug zurück nach Bremen, in dem bemerkt wird, wie klein der Radius der Heimat ist und wieviel Unentdecktes, Wunderschönes sich dennoch darin finden lässt.

Wenn Sie in den nächsten Wochen im Bürgerpark zwei Menschen nach Berlin radeln sehen: Bitte, sagen Sie nichts.

Susanne Gieffers