Krieg der Affekte

Die Macht der Bilder und Emotionen entscheidet den Ausgang internationaler Konflikte. Das haben die irakischen Widerstandskämpfer besser verstanden als Rumsfeld

Tausende getöteter Iraker haben zuvor nur ein Achselzucken in der westlichen Welt ausgelöst

Lynndie England schaute ihre Opfer auf den Fotos an. Den irakischen Gefangenen zum Beispiel, den sie wie einen unterwürfigen Sexsklaven an einem Band um den Hals über den Boden schleift. Oder jene anderen, auf deren Penisse sie zeigt. Der nackte Mann am Boden hält die Augen geschlossen. Das ist der letzte Schutz, der ihm bleibt. Die Unterbrechung des Sichtkontakts mit seiner Peinigerin und der Rückzug in seine innere Welt.

Dieser Schutz ist den Fernsehzuschauern rund um den Globus verwehrt. Alle müssen hinschauen. Es bedurfte wahrhaftig keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, was wohl in Guantánamo Bay oder im Irak mit entrechteten feindlichen Kombattanten geschieht. Aber wir mussten es nicht sehen. Auch die Enthauptung des US-amerikanischen Zivilisten Nick Bergs nicht. Moderne Kriege werden nicht mehr auf dem Schlachtfeld gewonnen. Sondern am Bildschirm mit den ausgelösten Emotionen. Das haben al-Qaida und die irakischen Widerstandskämpfer mindestens so gut verstanden wie die Lügenbolde der US-amerikanischen und der britischen Regierung.

Kaum jemand hat sich für die Menschenrechtsverletzungen im Irak interessiert, solange das Leid nicht individuelle Gesichter besaß. Getötete US-Amerikaner im Kampf gegen das Böse sind so lange erträglich, wie ihre Leichenteile nicht von jubelnden Irakern über Telefonmasten gehängt werden und das Geschehen über die Bildschirme der Welt flimmert. Die Schlacht wird von militärischer Übermacht gewonnen, der Krieg aber auf dem Feld der Affekte.

Deshalb sind die Erinnerungsfotos von Lynndie England ein verhängnisvoller Betriebsunfall. Der britischen wie der amerikanischen Regierung waren Misshandlungen, Mord und Vergewaltigungen seit langem bekannt. Täglich erreichten auch die Weltöffentlichkeit Meldungen über versehentliche Tötungen von Kindern, Frauen und unbeteiligten Zivilisten. Tausende getöteter Iraker haben kaum mehr als ein Achselzucken in der westlichen Welt ausgelöst. Aber ein einzelner nackter Iraker am Gängelband einer armseligen US-Soldatin? Eine Hand voll Individuen mit Säcken über dem Kopf genügt, um die westliche Öffentlichkeit nachhaltig zu verstören. Die Identifikation mit dem Schicksal eines einzelnen Menschen ist viel mächtiger als die abstrakte Auflistung von Opferstatistiken.

Das gilt hier wie dort. „Dann können sie sie doch gleich umbringen“, schrie ein empörter Muslim angesichts der Folterbilder in einer arabischen Fernsehsendung. Auch er wusste sicher schon vorher – genau wie die Zuschauer im Okzident –, dass es zahlreiche Übergriffe, Misshandlungen und schreiendes Unrecht durch die Besatzungsmächte gab. Aber die Schmach hatte kein Gesicht. Jetzt aber fallen persönliche Beschämung der Folteropfer und Schmach der arabischen Welt in eins. Die sozialpsychologische Sprengkraft besteht in der Schändung Einzelner durch Beschmutzung der Ehre und der religiös-kulturellen Werte aller.

Lynndie England ist dabei lediglich das naive Ausführungsorgan kollektiven Hasses, der geschürt wurde, um einen gigantischen Krieg überhaupt führen zu können. Sie und die anderen Misshandler sind nicht Einzelfälle, sondern die einzelnen Fälle eines politisch-militärischen Systems der Begünstigung und Förderung von Übergriffen. All das ist so lange kein Problem, wie die Weltöffentlichkeit und vor allem der Westen nicht von zur Identifikation einladenden Bildern erreicht wird, die die ewig hässliche, aber bislang erfolgreich verdrängte Seite des Krieges illustrieren. Lynndie England und ihre Kumpels haben ihre Pflicht prima erfüllt. Sie versagten erst, als sie Bilddokumente von Einzelschicksalen anlegten.

Fotos und Videos sind wie Sabotageakte hinter eigenen Linien. Denn die dargestellte psychische Vernichtung der Gefangenen ist zugleich ein Angriff auf das Identitätsgefühl der arabischen Welt. Und deshalb wirken die Bilder der kollektiven Demütigung der islamischen Welt wie eine gigantische PR-Aktion für alle Terrornetzwerke, wie eine Rekrutierungskampagne für Nachwuchsterroristen und Selbstmordattentäter zur Reparation der Schmach.

Das alles wissen die PR-Profis des islamistischen Terrors längst und spielen gekonnt auf der Klaviatur der globalen Medienöffentlichkeit. Postwendend liefern sie daher die Enthauptung eines US-Amerikaners vor laufender Videokamera. Wer da nach den individuellen Motiven für Sadismus fragt und den Rückfall ins Mittelalter beklagt, ist antiquiert. So antiquiert wie Lynndie England, die Erinnerungsfotos machen lässt. Oder wie Donald Rumsfeld, der nicht den Anflug einer Ahnung hat, welche sozialpsychologisch desaströsen Folgen die Folterbilder auf die Dynamik von Feindbildern und Ressentiments im Nahen Osten haben.

Selbst empörte Mitglieder des US-Kongresses, die von unamerikanischem Handeln sprechen, bedauern vor allem die Beschädigung des Ansehens und Selbstbildes der amerikanischen Nation und der US-Armee, nicht etwa die Demütigung der Opfer und ihrer Angehörigen oder gar der arabischen Gemeinschaft. Vor laufenden Kameras wird die Instandsetzung des Selbstbildes betrieben. Solche Statements erreichen allenfalls die eigene Nation, auf dem Schlachtfeld der globalen Emotionsführerschaft wirken sie lediglich selbstbezüglich.

Es ist die Macht der Bilder und Emotionen, die über Schicksale mächtiger Politiker und den Ausgang internationaler Konflikte entscheidet. Nicht nur Lynndie England hat die Folteropfer in der Minute ihrer schlimmsten Erniedrigung gesehen. Eine empörte Weltöffentlichkeit wurde Zeuge der Demütigungen. Doch Scham steigert sich mit der Anzahl der Zuschauer.

Der Wunsch nach Rache und Revanche betrifft am Ende nicht nur die Täter, sondern auch die Zeugen

Erst die Bilder lösten globale Empörung und – vielleicht – auch Konsequenzen der politisch Verantwortlichen in Washington und London aus. Insofern mögen sie weitere Übergriffe weniger wahrscheinlich machen. Die Zurschaustellung der eigenen gedemütigten Nacktheit vor einer Weltöffentlichkeit ist jedoch nicht nur für die Opfer vernichtend. Auch die arabische Welt ist in ihrer Ohnmacht den Zuschauern rund um den Globus einmal mehr preisgegeben.

Erlittenes Unrecht mag durch die Zeit gelindert, durch Wiedergutmachung verziehen werden. Öffentliche massive sadistische Demütigungen jedoch brennen sich in das persönliche wie kollektive Gedächtnis ein. Der Wunsch nach Rache und Revanche betrifft am Ende nicht nur die unmittelbaren Täter, sondern auch die Zeugen der kollektiven Schmach. Kain erschlug seinen Bruder Abel, als dieser Zeuge der eigenen Beschämung wurde: Als Jahwe das Opfer des Kain nicht annahm, sah Abel seinen Bruder im Moment der Schmach und Zurückweisung. Das hat Abel nicht überlebt.

MICHA HILGERS