Die Abc-Schützen vom Amt

AUS WINSEN AN DER LUHE ASTRID GEISLER

Manchmal wird einer plötzlich als Held gefeiert und kann selbst nicht recht erklären warum. So wie Axel Gedaschko. Ein Hauch von Revolution umweht seine Geschichte. Er soll ein Vorkämpfer sein, einer, der den Beamtenladen aufmischt, der endlich durchboxt, worauf Generationen vergeblich hofften. Reporter aus der ganzen Republik eilen deshalb zu dem jungen Landrat. Der sitzt in Zimmer 119, Gebäude B der Kreisverwaltung von Winsen an der Luhe und wundert sich.

„Wie die Idee ankommt“, sagt er, „das ist schon fast nicht mehr nachvollziehbar.“ Keine Spur von Umsturz weit und breit. CDU- Mann Gedaschko, 44 Jahre, sieht aus wie Herr Mustermann aus dem Lehrbuch für Nachwuchsverwaltungschefs: Blaues Hemd, gelber Schlips, beiges Sakko mit Namensschild auf der Brust. Wer den Takt angibt in seinem Büro, muss er nicht deutlich machen: Hinter dem Schreibtisch tickt friedlich eine Uhr – in Paragrafenform.

Fünf Monate sind vergangen, seit Axel Gedaschko an einem gewöhnlichen Arbeitstag im Herbst eine ungewöhnliche Entscheidung traf. Er beschloss, das klassische Amtsdeutsch in seiner Kreisverwaltung auszuradieren. Einfach so. Drei Briefe aus der Feder seiner Beamten waren in einer Stunde auf seinem Schreibtisch gelandet. Er hatte sie abnicken sollen als Landrat. Nur dass der Landrat nicht mehr nicken wollte. Er hatte sich vorgestellt, Bürger Gedaschko würde solche Schriebe bekommen. Er würde sie nicht verstehen. Und er ahnte: „Das war nur ein Bruchteil dessen, was hier rausgeht.“

Verbreitet wie Abchasisch

Wer aber sollte die Amtspost kapieren, wenn selbst er nicht durchblickte – als studierter Verwaltungsrechtler und Behördenchef? Gedaschko sah nur einen Weg. Seine 450 Mitarbeiter mussten eine Sprache lernen, die in der Bundesrepublik bis heute ähnlich verbreitet ist wie Abchasisch: Amtsdeutsch, das jeder versteht.

Inzwischen fragen Gefängnisse bei Axel Gedaschko an, die Bundesbank sucht seinen Rat, er wird in Hochglanzmagazinen porträtiert und im Frühstücksfernsehen befragt. Der Landrat weiß, welche Unglaublichkeiten das Publikum begeistern: „Mein Lieblingswort“, sagt er und legt eine Spannungspause ein, „mein Lieblingswort ist die ‚Anleiterbarkeit‘.“

Er grinst vielbedeutend. „Und? Wissen Sie, was das heißt?“ Natürlich nicht. Anleiterbarkeit. Ein Wort, akrobatisch gespreizt wie seine anderen Favoriten, die „Grunddienstbarkeitsbewilligungserklärung“, die „Verselbständigkeitsanalyse“ oder der „Brandüberschlagsweg“. Im Landkreis Harburg soll kein Bürger mehr über solche Ungetüme stolpern. Statt „stellen Sie die Anleiterbarkeit sicher“ schreibt die Behörde jetzt: „Stellen Sie sicher, dass die Rettungsleitern der Feuerwehr am Gebäude angelehnt werden können.“

Natürlich träumten schon andere Bürokraten davon, Schachtelsätze und Monsterworte aus dem Behördendeutsch zu verbannen. Die Bundesregierung verewigte den Wunsch sogar im § 16 (2) der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien: „Schreiben müssen präzise, inhaltlich vollständig, verständlich und höflich sein.“ Fachkommissionen entwarfen Stilfibeln, die Stadt Bochum ließ sich von der Universität einen Leitfaden anlegen.

Der Winsener Landrat aber wollte sich damit nicht begnügen. Er wollte seinen Mitarbeitern nicht nur die Theorie ins Regal stellen und hoffen, dass einige sie irgendwann mal durchblättern. Er wagte stattdessen ein Experiment, das er „Zwangsbeglückung“ nennt.

Gedaschko heuerte den Medienberater Peter Berger an, der mit 450 Angestellten in Kleingruppen übte, wie es ohne Mammutsätze geht, ohne Floskeln, ohne „i.S.d.G.“ (im Sinne des Gesetzes) oder „u.A.w.g.“ (um Antwort wird gebeten). Die Beamten lernten, dass man Neuigkeiten einfach mitteilen kann statt „Mitteilung zu machen“ und dass man Geld auszahlen sollte, statt es „zur Auszahlung zu bringen“.

Die Ergebnisse der Deutschstunden fasste der Medienberater in einer Stilfibel zusammen. Seither sind die Beamten dran: Die 100 wichtigsten Formulare, Bescheide und Briefvorlagen des Landkreises sind schon umgeschrieben. Bis zum Ende des Jahres soll das Amtsdeutsch auch aus den restlichen 700 Schriftstücken der Verwaltung verschwunden sein.

Alles prima, finden Sibylle Gruhl und Christian Kalesse, aber auch schwierig. Seit einigen Wochen sind die beiden zuständig für das Sprachprojekt der Kreisverwaltung. Sie sollen dafür sorgen, dass die Kollegen nach dem Sprachkurs auch wirklich ihre Texte überarbeiten und die Grunddienstbarkeitsbewilligungserklärungen und Brandüberschlagswege nicht weiter ihr Unwesen treiben im Landkreis Harburg.

In der Software eingenistet

Man muss nur einige Minuten mit Gewässeraufsichtsfachmann Kalesse auf seinen Computerbildschirm blicken, dann ahnt man, warum keine Revolution das Amtsdeutsch beseitigen könnte. Es hat sich über die Jahre eingenistet, wo man es schwer aufstöbern kann: in den hintersten Ecken der Verwaltungssoftware. Rund 100 Formschreiben zur Gewässerbeseitigung lagern allein auf Kalesses PC. Erst 20 davon hat er überarbeitet. Einige Vorlagen sind für alle Mitarbeiter auf einem zentralen Speicher abgelegt. Bevor sie irgendjemand umschreiben kann, muss ein Computerexperte her.

Aber nicht nur die Technik macht den Sprachwechsel mühsam. Kalesse gehört mit seinen 26 Jahren zum Behördennachwuchs. Selbst er sagt: „Etwas zu ändern, was man über Jahre so gemacht hat, das ist wahnsinnig schwierig. Das schüttelt man nicht aus der Hand.“ Als Kalesse vor zehn Jahren als Azubi bei der Kreisverwaltung anfing, schrieben alle im Bürokratenjargon, es gab nichts anderes. Irgendwann fand auch er die Sprache normal. Normal wie die Tatsache, dass man im Gesundheitsamt die Formulare der Sozialbehörde nicht unbedingt verstand.

„Manchmal“, sagt Sibylle Gruhl, „haben wir uns schon gedacht, hier kann doch was nicht stimmen.“ Zum Beispiel als die Behörde einem Bürger mitgeteilt hatte, seine Forderung werde erfüllt. Und was machte der? Er legte Widerspruch ein und drohte mit dem Anwalt. Aber es änderte sich nichts. Bis vor einigen Monaten. Sibylle Gruhl wirkt jetzt wie erlöst. Sie lacht über die alte Floskelsprache wie andere über Loriot. Sie macht sich Gedanken: Wie kommt das Amtsgebaren wohl draußen an? Wie kann sie alle Kollegen „mitnehmen“ auf den neuen Weg? Sie hofft jetzt. Mit der Sprache soll sich auch der „Geist des Hauses“ wandeln, sagt Sibylle Gruhl. Damit die Leute nicht mehr denken, in der Verwaltung, da lauere der Feind.

Nicht alle Winsener Kreisangestellten jubeln aber über die Zusatzarbeit. „Können wir etwa kein Deutsch?“, moserte es dem Landrat entgegen, als er den Zwangssprachkurs ankündigte. „Das klappt nie!“ – „Haben wir immer so gemacht!“ – „Das ist nicht mehr rechtssicher!“ Auch den Spott der Straße fürchteten die Beamten. Einige Kollegen blieben in diesen Schützengräben, berichtet Kalesse. Mit ihnen muss er jetzt manchmal drei Stunden über ein paar Formulierungen diskutieren.

Kein Wunder, dass Landrat Gedaschko lieber nicht über die Schönheit einfacher Sätze redet. Fragen nach seinen literarischen Vorlieben bügelt er ab. Dass bloß keiner auf die Idee kommt, hier vergnüge sich ein Hobbyphilologe auf dem Rücken seiner Mitarbeiter. Der Verwaltungschef argumentiert so, wie er auftritt: nüchtern und pragmatisch. Kundenzufriedenheit, Image, Kosten, darum gehe es ihm. Mögen andere sein Projekt revolutionär finden, er legt derweil eine Kosten-Nutzen-Rechnung vor.

Die geht so: Wenn ein Bürger einen Behördenbrief nicht versteht, ruft er in der Kreisverwaltung an. Ein Beamter kostet im Durchschnitt 60 Euro pro Stunde. Unterstellt, dass für jede Nachfrage eines Bürgers zehn Minuten Arbeitszeit draufgehen, kostet ein schlecht geschriebener Brief den Kreis zehn Euro. 700.000 verschickt das Amt im Jahr. „Können Sie sich vorstellen, was das kostet?“ Man kann.

Genauso gerne glaubt man Gedaschko und seiner Projektgruppe, dass die Nachhilfe schon wirkt. Die Telefone klingeln seltener. Und das spart Zeit, Personal, Geld. Merkwürdig nur, dass Amtsdeutsch nicht längst auf Rat von McKinsey wegrationalisiert wurde. Deutschlandweit. Verboten wegen der Haushaltslage.

Da wird der Landrat doch noch einmal grundsätzlich. „Wir Deutschen sind einfach so gestrickt“, sagt er. Obrigkeitsdenken. Ehrfurcht vor dem Komplizierten. Diese Eigenschaften seien nicht nur bezeichnend für Beamte, sondern typisch deutsch. Auch an den Universitäten sei die klare Sprache meist verpönt. Und man müsse sich nur die Post der Bürger an die Behörde anschauen: „Die verfallen sofort genauso in die hoheitliche Diktion“, sagt Gedaschko. Der gefeierte Sprachpionier aus Winsen hat deshalb eine genaue Prognose, wann das traditionelle Amtsdeutsch endlich ausstirbt: „Nie!“.