Anarchie ist machbar

Am Ende steuert alles unausweichlich auf den Abgrund zu, nur der Dorfrichter schwingt sich aufs Fahrrad und fährt davon: Am Hamburger Schauspielhaus inszeniert Jürgen Gosch Kleists „Der zerbrochne Krug“ als muntere Rauferei

Dieser Dorfrichter Adam ist nicht zu stoppen. Er schwitzt. Pöbelt seine Untergebenen an. Zwingt sie zwei Stunden lang in Strumpfhosen über die Bühne zu hüpfen oder ihn auf Zuruf mit Wasser zu bedienen. Ähnlich rüde blökt er herüber zu seinem Vorgesetzten. Der nächste Prozess ruft, doch erst muss er die Spuren der chaotischen Nacht loswerden. Aus einer Flasche kippt er sich Wasser über das bloße Haupt, aber das Blut klebt weiter an ihm.

Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ von 1808 ist ein Meisterwerk an sprachgewaltiger Verwirrung und präziser Menschenzeichnung – dankbar für ein unterhaltsames Bühnenspektakel. Die facettenreiche Hauptfigur ist wie geschaffen für begnadete Schauspieler, und so einer ist in Jürgen Goschs Krug-Inszenierung am Schauspielhaus der 35-jährige Thomas Dannemann. Ein Besessener, der keine Kompromisse kennt. Gerade feiert das Duo beim Theatertreffen mit Gorkis „Sommergäste“ Erfolge. Hier ein Regisseur, der sich jeder Interpretation von vornherein stur verweigert, dort ein manischer Darsteller, der die Crew und sich selbst langsam in den Wahnsinn spielt.

Auch Goschs Bühnen- und Kostümbildner Johannes Schütz läuft beim Krug zu Hochform auf und entwirft eine nackte, fast bis an die Decke reichende Betonwand, die Zuschauer und Vorhang voneinander trennt – sicher sein beklemmendster und radikalster Einfall. Der Ort Huisum kann überall sein.

Dorfrichter Adam tobt in schwarzem Einreiher auf dem schmalen Bühnengrat. Ein Egozentriker und Schlawiner, das Böse in galanter Uniform, das doch nicht verhindern kann, über die eigene Schandtat aus der Nacht zu Gericht sitzen zu müssen. Geplagt von verzweifelter Liebessehnsucht hat er versucht, sich die Dienste der tugendhaften Eve mittels einer Erpressung zu erschleichen, dabei ging dann der Krug ihrer Mutter Marthe zu Bruch.

Wiebke Puls ist einige Jahrzehnte zu jung für die Marthe. Kette rauchend hockt sie nervös erregt vor Gericht, den Krug wie ein Neugeborenes wiegend. Neben ihr die verstockt verstörte Tochter. Jana Schulz als Eve spielt keine Unschuld vom Lande, sondern einen modernen Teenager, zart und hart zugleich. Sie ist in dieser Rolle auf beredte Mimik festgelegt. Wenn die Klägerin zur hysterischen Furie mutiert und zu ihrem sprachgewaltigen Monolog ausholt, gehen nicht nur die Dörfler in Deckung: Adam schleift Marthe an den Haaren von der Bühne.

Bei so viel roher Action zeigt sich Jörg Ratjen als Protokollant Licht schnell überfordert. Ein Bürohengst im flamingofarbenen Hemd, der wie besessen seine Schreibmaschine bearbeitet. So einer macht dem gewitzten Adam seinen Job gewiss nicht abspenstig. Gosch hat jede Figur so präzise an den äußersten Rand der Anarchie getrieben, dass der Klamaukverdacht gar nicht erst aufkommen will. Gleichzeitig umschifft er damit die Kleist’sche Tiefe. Für zwei Stunden ist da eine muntere Rauferei und verbale Rangelei im Gange, die kaum Zeit zum Luftholen lässt. Und sich zu einer lustvoll quälerischen Wahrheitssuche auswächst. Die übrigen Dörfler hocken so deppert auf den Rängen, dass sie ohne diesen Richter wohl gänzlich verloren wären. Und der ist noch lange nicht am Ende seiner Vertuschungskünste. Er greift sich erst Tilbert Strahl-Schäfer als Eves smarten Verehrer Ruprecht als Bauernopfer. Später wälzt er den Verdacht auf den Teufel selbst ab. Am Ende ist der Abgrund unausweichlich, das Lügennetz hoffnungslos verheddert. Aber für einen Spieler wie Adam findet sich in jeder Welt ein Schlupfloch. Er schwingt sich aufs Rad und fährt davon.

Caroline Mansfeld

Weitere Vorstellungen: 11., 15., 23., 30. Mai, jeweils 20 Uhr