bootsflüchtlinge
: Augen zu, Grenzen offen

Fast möchte man glauben, jemand habe da Regie geführt. Während die EU-Staats- und Regierungschefs in Thessaloniki über eine gemeinsame Asyl- und Zuwanderungspolitik debattieren, sorgen hunderte in Lampedusa ankommende Immigranten dafür, dass die europäische Öffentlichkeit wieder einmal die Dringlichkeit des Themas wahrnimmt. Brisante Themen haben es an sich, dass die Politiker der EU-Staaten sie gern „vergemeinschaften“. Das entlastet zweifach: bei den Kosten und den Legitimationsproblemen. Werden hässliche Dinge aus Brüssel angeordnet, fragt niemand nach, ob sich die nationalen Regierungen die Befehle der Kommission nicht vorher bestellt haben. Doch Italiens Regierungschef Berlusconi hat Recht, wenn er die Bootsflüchtlinge vor Italien zum europäischen Problem erklärt.

Kommentarvon MICHAEL BRAUN

Denn die meisten der Eintreffenden steuern in der Tat nicht Italien an, sondern Europa. Sie suchen Arbeit und Auskommen in dem Wohlstandsraum, der ihnen als Gegenbild zu ihren Heimatländern erscheint. Jenes Europa absorbiert Jahr für Jahr hunderttausende von ihnen – und tut weiter so, als seien sie bloß ein grenzpolizeiliches Problem. Ende der 90er schien endlich eine Debatte über den Einwanderungskontinent Europa in Gang gekommen zu sein. Deutschland entdeckte den Bedarf an Immigranten, Italien verabschiedete ein Gesetz, das jährliche Zuwanderungsquoten vorsah.

An der Sachlage hat sich nichts geändert – wohl aber an der Stimmung. Die Diskussion auf dem EU-Gipfel von Thessaloniki zeigte das deutlich. Da wurde über gemeinsame Datenbanken geredet und darüber, wie vor Ort per „Bekämpfung der Fluchtgründe“ die Zuwanderung zu bremsen sei. Dies ist der menschenfreundliche Titel, unter dem nicht etwa Milliardenhilfen für die Armen, sondern ein paar Milliönchen für ihre Regierungen in Aussicht gestellt werden, damit sie ihre Leute am Abreisen hindern – und problemlos zurücknehmen.

Wozu diese Politik führt, zeigt gerade der italienische Fall. Kaum war dank Regierungsabkommen Albanien im Griff, fuhren die Leute mit ihren Seelenverkäufern von der Türkei ab. Kaum klappt die Fluchtverhinderungs-Kooperation mit der Türkei, schiffen die Menschen sich in Libyen ein. So wird es weitergehen – bis die EU-Staaten begreifen, dass Europa ein Einwanderungskontinent ist und bleibt.