BETTINA GAUS ÜBER FERNSEHEN
: Das alte Leid

Wenn Zeitzeugen vom Entsetzen berichten, spielen Zeit und Ort keine Rolle mehr

Erna Rickmers hat einen berühmten Bruder: den Schriftsteller James Krüss, der seiner Heimat Helgoland in seinen Kinderbüchern ein wunderbares Denkmal gesetzt hat. Aber das, was die alte Dame in ungewöhnlich gepflegtem, etwas altertümlichem Deutsch auf dem Sender „Phoenix“ im Rahmen der Zeitzeugen-Reihe „meine Geschichte“ erzählt, ist für Kinder nicht geeignet. Vom Zweiten Weltkrieg berichtet sie, vom Leben im Bunker, 18 Meter tief im Felsen unter der Erde, von der Angst vor der britischen Luftwaffe. 7.000 Bomben fielen am 18. April 1945 auf die Insel, die als Seefestung ausgebaut worden war. 104 Minuten dauerte der Angriff. Danach war Helgoland unbewohnbar.

„Die Leute waren alle totenblass und still, die Blicke nach oben gerichtet, und ließen nur diese Detonationen über sich ergehen, in der Hoffnung, dass es bald ein Ende habe und die Decke auch wirklich hielte“, sagt Erna Rickmers. „Das war dieses pausenlose Detonieren, das war furchtbar. Das waren ja richtige Bombenteppiche, die sie abwarfen, und es kamen immer neue Wellen, immer neue Angriffswellen. Das war schon schlimm. Weil man gar nichts machen konnte. Man konnte nur stillhalten.“ Nicht alle Familienmitglieder saßen beisammen. „Mein Großvater ging mit meiner Tante noch einmal aus dem Bunker heraus – das Haus lag gegenüber –, um das Essen zu holen, das auf dem Tisch stand. Sie wollten dann im Bunker essen. Es gab frische Scholle, die muss frisch verzehrt werden. Mein Großvater kam dann nicht wieder, auch die Tante nicht. In dem Moment ging der Angriff los, man hat auch nichts, kein Stück mehr von ihnen gefunden. Es war ein Volltreffer, der das Haus getroffen hat.“ Schwere Zeiten. „Das Haus war nur noch Staub, und von Dad war auch nicht mehr viel übrig. „Nur ein Haufen Fleisch“, wie mein Onkel, der ihn in den Trümmern fand, später mit brutaler Offenheit sagte.“

Dieser Tote ist nicht auf Helgoland gestorben, und er kam auch nicht 1945 ums Leben. Sondern erst vor ein paar Tagen, auf seinem kleinen Bauernhof im Norden des Gaza-Streifens. 48 Jahre alt wurde der Vater von Fares Akram, dem Korrespondenten der britischen Tageszeitung Independent in der Region.

„Mein Vater, Akrem al-Ghoul, war nicht militant. Geboren in Gaza und ausgebildet in Ägypten, arbeitete er als Rechtsanwalt und Richter für die palästinensischen Behörden“, schreibt der Sohn. „Nachdem die Hamas an die Macht kam, kündigte er und widmete sich der Landwirtschaft. Mein Vater hasste, was die Hamas dem Rechtssystem in Gaza antat, die Einführung islamistischen Rechts, und er war ein absoluter Gegner von Gewalt.“

„In meine Trauer mischt sich nicht der Wunsch nach Rache, von der ich weiß, dass sie immer sinnlos ist“, heißt es in dem Artikel weiter. „Aber als trauernder Sohn finde ich es schwer zu unterscheiden zwischen denen, die die Israelis Terroristen nennen, und den israelischen Piloten und Panzersoldaten, die in Gaza einmarschieren. Was ist der Unterschied zwischen dem Piloten, der meinen Vater in Stücke gerissen hat, und dem Militanten, der eine Rakete abfeuert?“

Darauf lässt sich gewiss eine feine, differenzierte Antwort finden – jedenfalls dann, wenn man nicht gerade selbst von Bombenangriffen bedroht wird und außerdem sogar weitgehend von schrecklichen Bildern in den Abendnachrichten verschont bleibt. Die Israelis lassen ganz einfach keine ausländischen Korrespondenten ins Kampfgebiet, und Aufnahmen palästinensischer Kamerateams können stets als Propaganda abgetan werden.

Auf diesen schlichten, wirksamen Mechanismus hat kürzlich Christoph Sagurna von RTL wenigstens einmal hingewiesen. Was nichts daran ändert, dass auch dieser Krieg wieder einmal aseptisch und sauber geführt zu werden scheint. Für die Fernsehzuschauer.

Die Kriegsgründe ändern sich, das Leid der Zivilbevölkerung bleibt gleich. Immer und überall. Wie fantasielos muss man eigentlich sein, um nüchtern die Frage zu erörtern, ob ein Waffenstillstand sinnvoll ist?

BETTINA GAUS FERNSEHEN

Fragen zum Krieg kolumne@taz.de Montag: Dieter Baumann über das LAUFEN