Lesbos, Wallfahrtsort für Frauen

Das Frauenland in der Ägäis mit Spaßfaktor

Die Schriftstellerin Renée Vivien (1877–1909) hatte die Entdeckung der Gedichte Sapphos einst mit der Entdeckung eines fernen Frauenlandes verglichen. Auf der Suche nach diesem Sehnsuchtsort reiste sie im Jahre 1904 mit ihrer Freundin Natalie Clifford Barney („L’idylle saphique“) von Paris aus zum Geburtsort der griechischen Dichterin: auf die Insel Lesbos in der Agäis.

Beide empfanden den Trip als Vereinigung von Tod und Wiedergeburt, als ein Leben, in dem Frauen einander grenzenlos lieben können. Der Versuch der Dichterinnen, nach dem Vorbild Sapphos eine Poesie- und Liebesschule für Lesben zu gründen, scheiterte allerdings an einem Eifersuchtsdrama.

Der für Frauenliebe identitätsstiftende Mythos namens Lesbos war jedoch begründet und inspirierte Schriftstellerinnen von Colette bis Marguerite Yourcenar. Seither ist die nur mäßig grüne Insel der Wallfahrtsort jener Frauen, die unter Liebe zwischen Frauen auch Sexuelles meinen.

Der lesbische Massentourismus konzentriert sich auf Skala Eresos, den Geburtsort Sapphos, der praktischerweise über einen wunderschönen Strand verfügt. An dessen nördlichem Ende liegt ein Felsen, von dem frau sagt, er sei ein Abbild des Profils der Sappho, die Hügel um Skala Eresos werden mit weiblichen Brüsten verglichen. Dort befindet sich auch der legendäre Campingplatz von Eresos, der während der Siebziger- und Achtziger Schauplatz von Auseinandersetzungen mit der eingeborenen Bevölkerung war.

Women-only communities förderten die lesbische Gemeinschaft, Spaziergänge, Wanderungen und Mopedtouren waren dabei hilfreich.

Männern war der Zugang streng untersagt, die Wachhunde der Damen kannten kein Pardon. In den Achtzigern kam es sogar wiederholt zu Schlägereien zwischen den Frauen und männlichen Einheimischen, die partout nicht begreifen wollten, dass es auch ohne Männer geht.

Mittlerweile hat sich die Lage jedoch entspannt: Die ansonsten hauptsächlich vom Olivenanbau lebenden Ureinwohner haben sich mit der lesbischen Präsenz arrangiert – nicht zuletzt, weil der Tourismus reichlich Geld auf der Insel lässt. Umgekehrt sind Männer nunmehr nur noch „nicht erwünscht“.

Gesellschaftlicher Höhepunkt des Jahres: das lesbische Open-Air-Filmfestival sowie die Lesbiada, ein Frauensportfestival. Unabhängig von diesen Events finden sich dort Trödelläden und Buchhandlungen, Cafés und Restaurants – unter lesbischer Leitung. Alles in allem: ein gewöhnliches Ensemble für Touristen mit Ansprüchen. Böse Zungen behaupten sogar, dass dort Hermes, der Gott des Geldes, Sappho längst den Rang abgelaufen habe.

Ältere, einst politisch bewegte Lesben kritisieren dementsprechend, dass die Zeit der großen Gemeinschaft vorbei sei, stattdessen – welch Verrat – spaßgesellschaftliche Umtriebe zu beobachten wären. MARTIN REICHERT