Vater, Freund, Geliebter

Früher, da war er mächtig. Ein Riese, in jeder Hinsicht. Sah er, was zu seinen Füßen geschah? Wusste er denn, dass sein Sohn ihn anguckt?

Seine riesengroßen Fußspuren sind es, an die ich mich erinnere, wenn ich an ihn denke. Als kleiner Junge versuchte ich im Wald immer, in seinen Abdrücken zu laufen, und musste Riesensätze machen. Erinnerungen an meinen Vater sind Bilder von einem Mann, der viele Jahre mit mir nicht zufrieden war, so wenig, wie er mit sich zufrieden war.

Immer weniger hatten wir uns nach der Scheidung meiner Eltern zu sagen. Und als ich ihm vor über fünfzehn Jahren von meinem ersten Freund erzählte und davon, dass es wohl eher Männer seien als Frauen, in die ich mich verlieben würde, wies er „jede Schuld“ von sich.

Neulich, als ich zu Pfingsten wieder „nach Hause“ fuhr, als ich also im Zug saß, gingen mir diese Bilder und Momente durch den Kopf. Und als er mich dann in Göttingen abholte, musste ich erneut feststellen, wie weit dieser gebeugte, ergraute und kranke Mann von dem Riesen, unnahbar und mächtig, entfernt war, als der er mir viele Jahre meiner Kindheit schwer gemacht hatte.

Am Bahnhof wartete er schon und freute sich, das stand in seinem Gesicht zu lesen. Und während ich mich früher nach seinen Umarmungen und Berührungen sehnte, war er es jetzt, der mich mit großer Selbstverständlichkeit an sich heranzog.

Die Fahrt im Auto ging direkt zurück in die Kindheit, in das Forsthaus, in dem ich, der ich die Straßenbahnen und die Kinos in der Stadt liebte, fast versauert wäre. Kleiner schien dieses Haus seit meinem letzten Besuch geworden zu sein, umwachsen von doppelt so hohen Bäumen, die in meiner Kindheit so groß waren wie ich.

Noch im Auto beschreibt mir mein Vater seine letzte Herzattacke, als der Schrittmacher ihn dreimal kurz hintereinander unter Strom gesetzt hatte. Und wie schnell die Ärzte zur Stelle gewesen waren. Ich betrachte ihn mir von der Seite, er schaut zurück. Und guckt, als wisse er, was ich eben gedacht hatte.

Doch weiß er wirklich, wie ich in jener Sekunde empfinde? Dass es nach Jahren der Trennung und Entzweiung nun ein Geschenk ist, ihn endlich in Augenhöhe zu sehen. Ihn wiederzufinden und eben erst zu entdecken. Und zu wissen, dass uns nicht mehr sehr viel Zeit bleibt und zugleich alle Zeit der Welt.

Wir verbringen den Tag, als wäre es wie in alten Tagen. Mit viel Essen, viel Reden und ein bisschen Sportgucken dazwischen. Früher ging es im Fernsehzimmer immer um den Kampf zwischen „Daktari“ und „Sportschau“, heute sitzen wir einträchtig vor dem Fernsehen und schauen – Damentennis.

Sein zweiter Infarkt hat ihn sehr verändert. Kurz nach dem Klinikaufenthalt vor vier Jahren, als er mir seine unglaublich lange und hässliche Brustnarbe zeigte, deutete er es an. Er würde schon mal ab und zu weinen, sei jetzt „nah am Wasser gebaut“.

Mein Vater sagt das, das macht mich glücklich. Fast dreißig Jahre hatte ich das Gefühl, er höre sich vor allem selbst gern reden. Ich hatte ihn und uns schon aufgegeben. Und plötzlich schaut er mir in die Augen, hört mir zu, fragt nach meinem Freund.

Das alles ist schwer zu erklären und doch leicht zu verstehen. Angst habe ich, denn immer könnte dieses Mal bei ihm das letzte Mal sein. Mit feuchten Augen sitze ich abends wieder im Zug und fahre durch den unglaublich schönen Abend. Nach Hause. In mein anderes Leben. FABIAN KRESS

Der Autor, 35 Jahre, lebt bis zu den Sommerferien in Berlin, ehe er mit seinem Lebensgefährten nach Barcelona zieht