Wie Vögel vor der Fütterung

In diesen Tagen findet das „Festival der Stimmen“ statt. Ein paar philosophische Gedanken über den Chor als Phänomen – von einer, die es wissen muss, der Leiterin des Berliner Popchors

von ALMUT KLOTZ

Es gibt Themen, die rufen in jedem Menschen eine starke Reaktion hervor, lebhafte Erinnerungen meist oder zumindest eine erstaunlich feste Einstellung. Drogen zum Beispiel, das Geschlechterverhältnis, Pelikanfüller, aber auch Putzverhalten. Und der Chor.

Lässt dieses Wort dem einen die Augen glänzen in der Erinnerung an selige, quasireligiöse Erlebnisse in einem solchen, treibt es den anderen zu derben Hasstiraden auf den zwangsgemeinschaftlichen Erlebnischarakter des Chors. Frohlockt der eine angesichts der üppigen Verschwendung purer Ausdruckskraft als Ausrufezeichen gegenüber technischem Minimalismus, schaudert dem anderen vor der nuancenlosen Stimmengewalt. Der Schlaue zuckt die Schultern und sagt: „Klar, in Krisenzeiten rotten sich die Menschen zusammen.“

Dass der Schul- und Kirchenchor in der Jugend ein von oben oktroyiertes Muss war oder ein Jugendzentrumsersatz, ist die eine Seite. Dass erwachsene Menschen, nachdem sie einen beträchtlichen Teil ihres Lebens damit verbracht haben, sich von Denkmustern zu befreien, freiwillig in einen Chor eintreten – beispielsweise als erster Versuch, avantgardistisch zu sein –, die andere. Ist es die geläuterte Erkenntnis, dass „wir im Singen uns und die Welt würdigen, die Natur und die Menschen, die mit uns sind“, wie Lord Yehudi Menuhin sinnierte? Oder brauchen wir uns „nichts vormachen, es bringt nun mal mehr Spaß, in einem Chor zu singen als ihm zuzuhören“, wie ein Chormitglied vom Popchor Berlin einmal durchaus gut gelaunt nach einem Konzert sagte?

Um aus den Interna des Popchors zu berichten: Ein Konzert des Popchors bringt eher eine Welle Mitsangeswilliger mit sich als richtige Fans. Von Groupies mal ganz zu schweigen. Andererseits ist der Chor an sich ein Heiratsmarkt, ein Familien- und Strukturersatz im Leben der Ich-AGs. Und dieser anachronistische Ansatz der Nicht-Selbstinszenierung, die freiwillige Unterwerfung seiner selbst als Teil des Ganzen bescheren einem merkwürdige Komplimente („Dieser Chor ist wie das Internet – man findet es super, aber man weiß doch nicht richtig, was man damit anfangen soll“) und fragwürdige Gespräche („Was, da machst du mit?“ – „Ja.“ – „Ach so. Na ja. Ich mag dich trotzdem.“).

Eine andere interessante Feststellung: Gerade allein zu Hause arbeitende Elektroniktüftler finden den Ansatz eines Chors total super.

Als Rezipient, das muss man zugeben, hat es etwas sehr Peinliches, Menschen dabei zu beobachten, wie sie das Gleiche tun wie man selbst, nämlich singen. Von außen betrachtet kann ein Chor also etwas höchst Anrüchiges haben. Warum tut man es aber trotzdem, obwohl man das weiß? Vielleicht ist es dieser Kreislauf, den man auch gerne bildenden Künstlern nachsagt: Der kindlich-kreativen Unschuld müssen die Erkenntnis und die Schuld folgen, um zur Unschuld zurückkehren zu können – einer wissenden Unschuld sozusagen, die dann auch gerne mal über die peinliche Berührtheit des Gegenübers feixt.

Das alles ficht jedoch den Deutschen Sängerbund (DSB) nicht an, denn der Zulauf, seit er sich 1862 in Coburg organisiert hat, zeigt eine steile Kurve nach oben. Und wie alle Bewegungen, die sich institutionalisiert haben, sammelt er fleißig Statistiken und Mitglieder, legt Wert auf ein zeitgemäßes Image und zeigt stolz Resultate. So jetzt also bei seinem 20. Chorfest in Berlin. Im Schulterschluss mit der Fête De La Musique gibt es Konzerte auf der Chormeile Unter den Linden, in Konzerthallen, Kirchen und Open-Air-Plätzen des historischen und neuen Stadtkerns. Einmal mehr muss sich die Stadt der Drangsal einer Massenvereinigung beugen und opfern. Es sind dabei der Superlative so viele, dass man beim Lesen schon abstumpft: Mehr als 30.000 Sängerinnen und Sänger aus 17 Ländern und allen fünf Kontinenten geben in 550 Chören an 120 Konzertorten über 800 Konzerte.

Tatsache ist, dass man in diesen Tagen überall über Menschengruppen stolpert, die mit ihren geöffneten Mündern und schräg nach oben geneigten Köpfen immer ein wenig an Vögelchen vor der Fütterung erinnern. Man muss es sich wirklich verkneifen, bei ihrem Anblick an sich selbst zu denken, im Boden versinken oder spotten zu wollen – denn wer sich schämt, wird wie gesagt für seine Scham verspottet werden. „Ich höre Stimmen“ lautet der Slogan zum Chorfest. Das nimmt sehr witzig den Wahnsinn vorweg, der einen überkommen kann bei all dem Gospel, Jazz, Barock und Pop, der aus dem Schwarz dieser geöffneten Münder dringen wird.

Bis zum 22. Juni, Infos unter www.chorfest-berlin.de