Der Kreuzberger Maibaum

Während die Bayern und Westfalen mit Poussieren und Ringeltanz ihre Maibräuche pflegen, feiert die Berliner linke Szene den 1. Tag des Wonnemonats auf ihre Weise: mit Demonstrationen, Straßenfesten und Krawallen. Ein wirres Gewächs aus Initiativen und Politik trägt die Kreuzberger Tradition

VON FELIX LEE

Im Mai, da sprießen sie, die kräftigen Birken in frischem Grün. Und tun sie es nicht, dann sind sie geschäpst, gekraxelt, bemalt und geschmückt. Naturbelassen oder bekränzt erfreuen sie die ringeltanzenden Kinder zu ihren Füßen: die Maibäumchen. Nur ein Baum nicht. Der Maibaum der Linken ist weder saftig grün noch bunt bemalt. Doch trotz übermäßig gießender Polizisten, umherfliegender Pflastersteine und Scherben – der Maibaum der Linken ist knorrig, hat aber überlebt. Eine Chronik in Baumabschnitten:

Wurzeln allen Übels: die Arbeiterbewegung. 1886 endete ein Arbeiteraufstand im fernen Chicago mit Toten und Verletzten. Der erste Keim war entsprungen.

Der Stamm: Es mussten erst Jahre vergehen, bis das zarte Pflänzlein Bismarck, Blutmai und Nazis überlebt hatte, um zur gesunden Birke heranzuwachsen. Egal ob bei Regen oder Sonnenschein – hölzern wuchert er weiter, der dicke Stamm der DGB-Gewerkschafter.

Der Blitzeinschlag: 1987, erst brannte der Supermarkt Bolle in Kreuzberg, dann spross die Mutter aller sozialrevolutionären Äste. Und da fängt sie auch schon an, die wirre Verästelung.

Der dünne Zweig der maoistischen Revoluzzer (RIM): Er stand einige Jahre selbst im Feuer des Gefechts, hat sich längst verselbstständigt und wächst eisern weiter. Jedes Jahr um 13 Uhr.

Der autonome Ast: Er drohte immer wieder abzubrechen. Doch Mitte der 90er-Jahre verhalf vor allem die Anitfaschistische Aktion Berlin (AAB) dem absteigenden Ast zu neuen Wachstumsschüben. Selbst deren Spaltung im Jahr 2003 in die Zweige Antifaschistische Linke Berlin (ALB) sowie Kritik und Praxis (K&P) führte nicht zum Baumsterben. Der nun zum ACT-Zweig zusammengewachsene Ast blüht um 16 Uhr, der K&P-Ast einen Abend zuvor, einem kommunistischen Europa entgegen.

Der witzige Ableger: Die Spaßpartei KPD/RZ treibt gern ganz besondere Blüten.

Die Straßenfestinitiativen: Das Fest am Lausitzer Platz war Mitte der 80er-Jahre ein erster dorniger Spross und führte zu ständigen Reibereien. Die Zweige zum Kollwitz- und zum Humannplatz wurden von 1995 anderem Grün zertrampelt oder verdorrten später von selbst. Dennoch brach der Maibaum bis zum Mauerpark durch. Und am Mariannenplatz blüht er heftig. Erst gab Peter Grottian frischen neuen Denkdünger, nun lässt Bezirksbürgermeisterin Reinauer persönlich gießen, zum Myfest.