Zocken für 35 Stunden

Der Aufzughersteller Otis fertigt im Westen und Osten der Stadt. Alle Monteure machen gleiche Arbeit – doch die einen arbeiten drei Stunden mehr. Den Streik der IG Metall unterstützen sie gemeinsam

von MAXIMILIAN HÄGLER

Wer in den oberen Etagen der Chausseestraße 35 sitzt und in Richtung Westen aus dem Fenster blickt, der sieht wohl die sportlichen Errungenschaften der Marktwirtschaft auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Da kann der Golfball weit ins Feld gedroschen werden, 250 Meter verheißt eine Marke auf dem Grün der Driving Range des Golf-Zentrums Mitte. Und wer ganz oben ist, kann vielleicht auch Reinickendorf und das Lützowufer erahnen. Dort gilt das Tarifgebiet I der Metallbranche.

Chausseestraße 35, hier sitzt nur eine Filiale des Aufzugbauers Otis, der weltweit 4.000 Mitarbeiter beschäftigt. Und auch auf dem Bürgersteig wird an diesem Mittag gezockt. Unter roten Gewerkschaftssonnenschirmen sitzen die Monteure und Meister von Otis beisammen und mischen seit Stunden die Karten zu immer neuen Runden. Eigentlich sind sie dafür zuständig, dass die Menschen nach oben kommen, sie bauen Aufzüge in Häuser. Und weil immer mehr Häuser gebaut werden, gibt es eigentlich genügend zu tun für die Männer, die etwa auch für das reibungslose Auf und Ab im Sonycenter sorgen. Aber heute ist das Tor zum Betriebshof mit einer Bierbank versperrt, und auf roten Gewerkschaftsfahnen steht geschrieben: „Dieser Betrieb wird bestreikt“.

Auch die beiden Ostberliner Andreas Brömisch* und Friedrich Binder* sitzen vor ihrem Firmengelände. Der eine, Andreas Brömisch, im Blaumann, der andere in Zivilkleidung. Denn Otis-Archivar Binder arbeitet eigentlich gar nicht an diesem Standort, sondern im Hauptwerk in Reinickendorf. Das ist West-Berlin und Tarifgebiet 1, deshalb muss der gelernte Elektroniker auch nur 35 Stunden pro Woche arbeiten. „Ich habe das geschenkt bekommen, als ich von Pankow zu meinem West-Berliner Arbeitsplatz wechseln musste“, erzählt Binder. Aber trotzdem mag er diese angenehme Ungerechtigkeit nicht gelten lassen. „Ich habe mir einen Tag freigenommen, um die Kollegen zu unterstützen.“

Genau wie sein Kollege Binder war auch der Familienvater Andreas Brömisch vor der Wende bei dem DDR-Aufzugbauer BAF angestellt, er arbeitete damals schon in der Chausseestraße. Anders als sein Kollege konnte er in seinen Werkhallen in Mitte bleiben. Der Preis: drei Stunden mehr Arbeit pro Woche. Obwohl er die gleichen Aufzugsysteme wartet und instandsetzt wie etwa die Kollegen in Reinickendorf oder am Standort Lützowufer. Und eigentlich stört das den 42-Jährigen auch gar nicht so sehr, schließlich sei hier alles vertraut. „Aber gerade wenn man bei Lehrgängen auf Kollegen aus dem Westen trifft, dann staunt man doch, dass die jeden zweiten Freitag freihaben.“ Einen Monat weniger Arbeit im Jahr – dass „hätte man auch gerne“.

Roland Fischer kann das nicht so recht nachvollziehen. „Als Angestellter merkt man diese drei Stunden Mehrarbeit doch nicht wirklich!“ Fischer ist Mitglied der Otis-Geschäftsführung und sitzt in Reinickendorf. Dort gilt Tarifgebiet 1, und sogar die U-Bahnen halten an der „Otisstraße“. Für ihn ist es zu allererst eine „Stilfrage“, ob man am 17. Juni streikt. Doch unbesehen vom Datum kann er „diesen Arbeitskampf und auch das Ziel nicht nachvollziehen“. Am Telefon klingt der Manager gar nicht so verhandlungsunwillig, sondern viel mehr erschöpft. „Einfach nur schlimm“ sei das Ganze, sagt er resigniert. Denn die Wirtschaftslage werde nicht einfacher – planbarerer Stufenplan hin oder her. Schließlich würde in den nächsten Jahren starke und billige Konkurrenz in den neuen EU-Ländern entstehen und Kostensteigerungen bei Service und Herstellung könnten nicht an die Kunden weitergegeben werden. „Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann vernichten wir Arbeitsplätze“, klagt Fischer.

Die Gewerkschaftsbosse dagegen wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und auch Andreas Brömisch fordert: „Das Spielfeld muss immer dasselbe sein. Es kann nicht sein, dass der eine sieben Meter laufen muss und der andere elf.“ Als das Gespräch eigentlich schon zu Ende ist, schaut Andreas Brömisch noch einmal auf, und für ein paar Momente wird der ruhige Anlagenmonteur energisch. „Manchmal“, setzt er an, „manchmal fehlt mir die Liebe zur Firma.“ Er wundere sich, dass jedes Jahr gesagt werde, „das ist ein schlechtes Jahr“, und trotzdem habe die Firma Erfolg. „Es könnte doch alles noch mehr glänzen, wenn man ehrlich miteinander reden würde.“

* Namen geändert