Von großen und kleinen Tarifmauern

Der Streik bei Otis ruft Erinnerungen daran wach, dass die Unterschiede in der Entlohnung in Berlin einst am größten waren, aber auch am schnellsten abgeschafft wurden. Die Lohndifferenz ist aber nicht nur eine Frage des Tarifvertrags

Wenn der Aufzugbauer aus Reinickendorf am Freitagnachmittag schon im Wochenende ist, muss sein Kollege in der Chausseestraße noch drei Stunden schuften. Diesen Unterschied hat der gestrige Ausstand der etwa 50 Beschäftigten bei Otis vor Augen geführt.

Unterschiedliche Arbeitsbedingungen, Löhne und Gehälter bei gleichen Lebensunterhaltskosten – gerade in Berlin waren die „Tarifmauern“ nach der Wende am deutlichsten zu spüren. Das wusste auch der Diepgen-Senat. Um den sozialen Frieden im Einigungsprozess nicht allzu sehr zu strapazieren, führte Berlin 1995 als erstes Bundesland die Angleichnung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst an das Westniveau ein. Die Reaktion erfolgte prompt: Berlin wurde aus der Tarifgemeinschaft der Länder geworfen. Doch die Angleichung der Löhne und Gehälter war fortan in keiner Tarifrunde mehr wegzudenken.

Nach und nach beschlossen die Druckindustrie, die Metallindustrie, Handel, Banken und Versicherungen zum Teil nach hart umkämpften Tarifrunden die Einführung von Westgehältern. Als Letztes zog im letzten Jahr die chemische Industrie nach. Wer bei Berlin-Chemie in Adlershof arbeitet, bekommt ab dem Jahr 2009 das gleiche Gehalt wie sein Kollege bei Schering im Wedding.

Eine harte Tarifmauer, sprich: unterschiedliche Löhne und Gehälter, gibt es in Berlin, wo West und Ost unmittelbar aufeinander treffen, nur noch in wenigen Branchen. Dazu gehören unter anderem die Bundesbeschäftigten des öffentlichen Dienstes. Wer im Bundesbauministerium in der Invalidenstraße arbeitet, bekommt bei gleicher Gruppierung in den Bundesangestelltentarif (BAT) immer noch neun Prozent weniger als sein Kollege im Innenministerium in Moabit. Eine gleich hohe Tarifmauer gibt es auch zwischen Berlin und Brandenburg, wo noch immer nach BAT-Ost entlohnt wird.

Mit dem Streik der Metaller, der seit gestern auch Berlin und Brandenburg erreicht hat, rücken nun aber auch die weichen Tarifmauern in die Erinnerung. Und die gibt es nach wie vor auch bei den 153.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bei den Berliner Landesbehörden. So arbeiten etwa Bezirksamtsmitarbeiter in Pankow 40 Stunden, während die Wochenarbeitszeit in Kreuzberg nur noch 38,5 Stunden beträgt.

Tarifmauern werden aber nicht nur in Tarifverträgen aufrechterhalten oder abgebaut, sondern sind oft auch das Ergebnis von so genannten Öffnungsklauseln. Die ermöglichen es Betrieben oftmals, bei schlechter Auftragszahlung von der Tarifentlohnung abzusehen.

„Die geltenden Tarifverträge spiegeln für große Teile der ostdeutschen Wirtschaft nicht den tatsächlichen Stand der Lohnanpassung wider“, sagt deshalb Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). So erhielten im Jahr 2000 die ostdeutschen Arbeitnehmer im Schnitt nur 76,7 Prozent des Geldes, das man im Westen verdiente.

Für den Aufzugbauer von Otis in der Chausseestraße dürfte das allerdings nur ein schwacher Trost sein. WERA