Manchmal unterbricht er das Gespräch einfach mit Bildern seiner Lieblingskatzen: Chris Markers „Der schöne Mai“ im Metropolis
: Die Zombies des Glücks

Ein Monat ist gar nichts. Denkt man und blickt zurück auf den April, an den man sich erinnern kann, auf den November, der hinter vagem Dunst gerade noch zu erkennen ist, auf den April letzten Jahres, der vielleicht schon in einem der schrecklichen weißen Löcher verschwunden ist, die das Gedächtnis perforieren und wegen denen man dann seufzt: Die Zeit vergeht.

Es ist dieses „man“, das Chris Marker in seinem ersten Langfilm Der schöne Mai (Le joli mai, 1962) aus seiner Verfangenheit in Zeit und Zwänge hervorlocken wollte. Den lieben langen Mai 1962, den ersten Mai nach dem Friedensschluss im Algerien-Krieg, ist Marker mit seinem Team durch Pariser Boulevards und Gassen gestreift, hat Leute aus der anonymen urbanen Menge heraus vor seine Kamera geholt und befragt. Was bedeutet dieser Mai für Sie, was ist Ihnen wichtig im Leben, sind Sie glücklich? Ein Ladenbesitzer, zum Beispiel, ist gar nicht glücklich: Tagsüber macht ihn die Hitze fertig, abends seine Frau, erst beim Fernsehen findet er Frieden. Glück bedeutet für ihn, dass er einen Anzug verkauft hat. Der Sinn des Lebens? Job und Unterhaltung.

„Zerstreuungen, die Zombies des Glücks“, so lautet einer der Denksätze des brillanten Kommentartextes. Wenn das Private das Politische ist, stand es um Letzteres damals schlecht. Algerien ist den meisten Befragten herzlich egal. Dieser Mai ist ihnen einer wie jeder andere. Eine Gruppe von Börsianern interessiert sich für Politik nur, insofern sie die Kurse beeinflussen könne. Ob Frankreich, dem de Gaulle vier Jahre zuvor eine neue, präsidiale Verfassung verpasst hatte, eine Demokratie sei? Ein junger Mann: „Vielleicht“. Da müsse der Befrager aber eher „die da oben“ fragen. Die Kamera schwenkt flink auf einen Fassaden-Engel am Torbogen über dem Mann und zurück. Sie zeichnet nicht nur auf, sondern denkt mit.

Durch solche spielerischen Manöver unterscheidet sich Der schöne Mai von einem zwei Jahre früher gedrehten Paris-Film, mit dem er ansonsten viel gemeinsam hat: Chronik eines Sommers von Jean Rouch. Auch er fragte nach dem Glück, und vor allem erfand er die aufregend neue Dokumentarfilm- Methode des so genannten cinéma vérité. Fremde Menschen werden in Gespräche verwickelt oder gar provoziert, sie können sich darstellen oder auch gegen das Interview wehren.

Chronik eines Sommers war eine Art therapeutisches Experiment, das soziale Wahrheit aus der Beobachtung von Verhalten gewinnen sollte. Marker ist formal vielseitiger. So treten neben die Interviews architektursoziologische Reflexionen. Die Aussagen von Bewohnern der armen, aber lebendigen Rue Mouffetard, die bald dem Betonurbanismus wird weichen müssen, unterlegt Marker kontrapunktisch mit dem Text einer Werbung für ein neues Luxus-Wohnhochhaus – und zeigt dann abschreckend bunkerartige Neubauten.

Am heftigsten sind Markers pointierte Schnitte aber, wenn sie, statt dialektisch anzuschließen, ins Private des Filmemachers verweisen. Manchmal unterbricht er Gespräche einfach mit Bildern seiner Lieblingskatzen. Cinéma vérité wird zu „ciné – ma vérité“ (so Markers Wortspiel: „Kino – meine Wahrheit“).

Wegen dieser Öffnung des Dokumentarischen auf das Subjektive hat Agnès Varda Marker den Erfinder des Essay-Films genannt. Das war für seine späteren Filme wegweisend; die Katzen wurden zum Running-Gag. Essayistisch ist dann besonders der elegische Schluss von Der schöne Mai. Marker zeigt Gesichter von Passanten, die er nicht interviewt hat. Er trauert über die undefinierbare Angst, die er in ihnen sieht. Woher kommt sie? Die zweieinhalb Stunden von Der schöne Mai legen nahe: Der größte Fehler liegt im Vergessen der Gegenwart. Man verlässt das Kino und ist froh, einen Mai vor sich zu haben. Jakob Hesler

Dienstag, 21.15 Uhr, Metropolis