Fahrten nach Auschwitz reichen nicht

Vor der heutigen Antisemitismus-Konferenz formulieren europäische Bildungsexperten neue „Eckpunkte eines pädagogischen Umgangs mit Antisemitismus“. Eine multikulturelle Schülerschaft muss ihren Alltags-Antisemitismus verstehen lernen – von jungen Arabern bis Martin Walser

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

Seit 25 Jahren kämpft er. Doch nun fühlt er sich „ein bisschen müde“. Ulrich Dovermann, Leiter der Projektgruppe Rechtsextremismus bei der Bundeszentrale für politische Bildung, fragt sich, warum der „Transfer von historischem Wissen in praktisches Handeln heute“ nicht gelingen will. Obwohl viele Gelder in die Bildungsarbeit über Nationalsozialismus und Holocaust fließen, kommen in Europa wieder verstärkt antisemitische Tendenzen auf. Es gelingt oft nicht, Forscherwissen in die Aufklärung von Menschen zu übersetzen.

Mit welchen bildungspolitischen Konzepten kann dieser Entwicklung gegengesteuert werden? Greifen die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Konzepte der „Holocaust-Education“ überhaupt noch? Wie unterscheidet sich die Situation in den einzelnen europäischen Ländern? Solche Fragen stellten sich nicht nur Dovermann, sondern „Multiplikatoren der politischen Bildung“ aus sieben europäischen Ländern in Berlin.

„Seit zwei Jahren tauschen wir kontinuierlich unter dem Dach des American Jewish Committee unsere Erfahrungen aus“, berichtet Hanne Thoma, eine der OrganisatorInnen der Arbeitskonferenz. An dem Zusammenschluss, der sich „Task Force Education on Anti-Semitism“ nennt, arbeiten aus Deutschland unter anderem die Berliner Amadeu Antonio Stiftung, das DGB-Bildungswerk Thüringen und die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank sowie das Fritz Bauer Institut in Frankfurt/Main mit.

Bewusst traf man sich wenige Tage vor der heute beginnenden Berliner Konferenz zum Thema Antisemitismus der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Dazu werden im Außenministerium etwa 500 Teilnehmer aus allen 55 Mitgliedstaaten erwartet. Denn die zunehmenden antisemitischen Vorfälle und Gewalttaten in Europa haben inzwischen auch die politisch Verantwortlichen aufgeschreckt. Erst vor wenigen Monaten gelangte eine zeitweilig unter Verschluss gehaltene Studie der EU-Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) an die Öffentlichkeit, in der nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Belgien, die Niederlande und Großbritannien als Problemfälle beschrieben werden. Träger der Übergriffe gegen Juden sind oft aus arabischen Ländern eingewanderte Jugendliche.

„Deshalb brauchen wir neue pädagogische Ansätze, welche die aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus bekämpfen“, sagt Thoma. Auf dem Treffen hinterfragten die Experten nicht nur ihre konkrete Arbeit, sondern formulierten als Ergebnis „Eckpunkte eines pädagogischen Umgangs mit Antisemitismus“ für die Delegierten der OSZE-Konferenz. Darin fordern sie Geld – und vor allem eine inhaltliche Neuausrichtung der Antisemitismus-Bildung.

„Der Antisemitismus darf nicht lediglich in einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus behandelt werden“, heißt es in den Eckpunkten. Gegenstand von Bildung müsse vor allem „seine aktuelle Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs“, wie die Auseinandersetzungen um das Flugblatt von Jürgen Möllemann oder die Literatur von Martin Walser sein.

Denn in der Praxis brennt es. „Was tun, wenn für die meisten Jugendlichen der Nationalsozialismus und die Shoah historisch so weit weg sind wie das Mittelalter?“, fragt Bernd Fechler von der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank. Inzwischen setzen sich viele Schulklassen zu einem Teil aus SchülerInnen mit Migrationshintergrund zusammen, für die „die deutsche Nationalgeschichte nicht der einzige Bezugspunkt ist“.

Obwohl heute in fast allen Schulen die historische Auseinandersetzung mit dem Holocaust auf dem Lehrplan steht, gibt es kaum schulische Konzepte zur „Behandlung jüdischer Geschichte und jüdischen Lebens heute“, stellten die Pädagogen von der „Task Force“ fest. Bei den Lehrkräften löse das Thema Antisemitismus als solches weiterhin Berührungsängste aus.

Als konkreten Lösungsansatz schlägt Bernd Fechler vor, dass die „jüdische Geschichte nicht nur als Opfergeschichte wahrgenommen werden“ darf. Einen „Perspektivwechsel bei der Darstellung und Vermittlung deutsch-jüdischer Geschichte“ fordert auch die Orientierungshilfe für „Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht“, die das Frankfurter Leo Baeck Institut letztes Jahr den deutschen Kultusministern übergab. „Juden waren im Verlauf der Geschichte nicht nur Objekte, Verfolgte und Opfer, sondern auch Subjekte, aktive Bürger und kreative Mitgestalter von Geschichte, Kultur und Wirtschaft in Mitteleuropa“, heißt es darin. Deshalb gelte es, auch die positiven Aspekte der fast zweitausendjährigen gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte zu betonen, die eben nicht „aus einer kontinuierlichen Verfolgung von den Kreuzzügen bis zum Nationalsozialismus bestand“. Mitte Juni sind nun alle Kultus- und Wissenschaftsminister der Länder ins Berliner Jüdische Museum zu einer Konferenz über die entsprechende Neugestaltung der Lehrpläne eingeladen, berichtet der Leiter der Arbeitsgruppe, Martin Liepach.

Dingend gesucht sind Antworten in den Lehrplänen auf die neuen Erscheinungsformen des Antisemitismus. So beobachten fast alle westeuropäischen Teilnehmer eine „verstärkte Verbreitung von Verschwörungstheorien, die zum Teil mit der Antiglobalisierungsdebatte verknüpft sind“.

Gedenken für den Scheich?

Große Probleme bereiten den Lehrern besonders in Frankreich „antisemitische und islamistische Orientierungen bei Teilen der muslimischen Minderheiten, der sich oft aus dem aktuellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern speisen“. Viele Pädagogen sind verunsichert. Was tun, wenn Schüler – mit Verweis auf das Gedenken an die Opfer der Terroranschläge in Madrid – Wochen später eine Gedenkminute für den von israelischen Sicherheitskräften getöteten Scheich Jassin einfordern? Welche Kritik an der israelischen Regierungspolitik hat antisemitische Untertöne, welche nicht?

Doch ist nicht einmal überall in Europa eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust durchgesetzt. Dies berichtet die an der Tagung teilnehmende russische Kommunikationswissenschaftlerin Yelena L. Rusakova. „In den Schulbüchern unseres Landes ignoriert man den Holocaust entweder ganz oder spricht nicht an, dass die Opfer des Holocaust Juden waren.“ Selbst bei Bildern aus Konzentrationslagern spreche man nur von Millionen anonymen Toten. Einen Hoffnungsschimmer konnte am Ende der Konferenz Paula Kitching vom London Jewish Cultural Center verbreiten. Da Großbritannien schon viel länger eine sichtbare multikulturelle Gesellschaft mit vielen verschiedenen Minderheiten sei, „fühlten sich dort die Muslime viel eher als britische Muslime denn als Muslime in Britannien“. Das sei einer der Gründe, „warum es in Großbritannien weniger antisemitische Strömungen unter den muslimischen Jugendlichen gibt“.