„Man ist ja bodenständig“

Heute vor 50 Jahren feierte Renate Schmidt ihr Abitur. Ein Gespräch unseres Autors Jochen Schmidt mit seiner Mutter über den 17. Juni 1953, die Angst vor Russland und die Unmöglichkeit, zu gehen

Interview JOCHEN SCHMIDT

taz: Am 17. Juni 1953 warst du 18 Jahre alt. Erinnerst du dich noch an die Stimmung im Land vor dem 17. Juni?

Renate Schmidt: Das erste Halbjahr von 53 war das schlimmste, das wir bisher hatten in der neuen DDR, es gab fast alles nicht, außer Brot und Kartoffeln.

Nur bei euch in Thüringen oder in der ganzen DDR?

Nein, nein, im Allgemeinen, das hatte aber damit zu tun, dass die Bauern in die LPGs mussten, höhere Lieferbedingungen kriegten und abhauten. Und politisch war die Stimmung auch schlecht.

Aber Stalin ist doch in dem Jahr gestorben?

Danach wurde der Druck vom Staat immer größer, und auch allgemein in der Welt, der Koreakrieg. Ich weiß noch, dass wir vor dem Abitur dachten: Warum bereiten wir uns eigentlich noch vor? Es kommt sowieso ein neuer Weltkrieg, und da gehen wir alle kaputt, weil die Raketen der Amerikaner und der Russen sich bei uns treffen. Also, es war allgemein eine trübe, gedrückte, pessimistische Stimmung. Die Junge-Gemeinde-Mitglieder mussten sich schriftlich von der Kirche distanzieren, einer, der es nicht getan hat, wurde vom Abitur ausgeschlossen. Nach dem 17. Juni wurde alles etwas leichter, dieser Schüler durfte Abitur machen, fünf andere durften Medizin studieren, was für Schüler bürgerlicher Abkunft eigentlich unmöglich war.

In der Forschung gibt es jetzt viele Spekulationen darüber, was eigentlich passiert ist, als Ulbricht und Grotewohl nach Moskau gerufen wurden. Habt ihr von solchen Dingen irgendetwas mitbekommen?

Nein, überhaupt nicht; erstens waren wir jung, und zweitens gab es kein Fernsehen und kaum Radio. In Thüringen haben wir nur den Rias empfangen, und der wurde mittags, wenn er mit den Nachrichten anfing, vom Sender Ochsenkopf gestört. Ein furchtbares Pfeifen, man musste es sehr laut stellen.

Wie stand man denn zum Rias, dessen Tonfall auch aus heutiger Sicht, wenn man alte Aufnahmen hört, scharf wirkt?

Meine Familie hat immer geglaubt, alles, was der Westen sagt, ist wahr, und alles, was der Osten sagt, ist gelogen. Das war bis zum Ende der DDR so.

Ich dachte ja immer, der 17. Juni hätte nur in Berlin stattgefunden, und wusste lange gar nicht, dass das ein landesweiter Aufstand war.

Ja, wir hatten in Arnstadt ein ehemaliges Siemenswerk, das dann RFT hieß, dann hatten wir in Rudisleben große Maschinenwerke, und da, wo Industrie war, waren die Arbeiter erregt, und die trauten sich mehr, die hatten weniger zu verlieren und auf die stützte sich ja eigentlich die DDR.

Wie ist der Tag abgelaufen?

Wir haben unsere Abiturzeugnisse bekommen, und abends hatten wir in einer Dorfkneipe in der Nähe, die hieß „Das Schlösschen“, ein kleines Fest. Da haben wir zu Radiomusik getanzt, wir hatten ja keinen Plattenspieler, und gegen Mitternacht rief der Direktor an und sagte uns, die Siemenswerke streiken, die russischen Panzer bewachen die Eingänge der Stadt, und es ist Ausgangssperre. Wir sollten uns immer zu zweit alle halbe Stunde zurückschleichen, an den Panzern vorbei nach Hause. Dass in der DDR gestreikt wurde, war unvorstellbar, wie eine Revolution.

Und nach dem 17.Juni soll es ja noch weitergegangen sein in anderen Städten.

Das haben wir nicht mitbekommen. Wir haben uns nicht mehr auf die Straße getraut, und wir hatten furchtbare Angst und haben uns zurückgehalten.

Ich kann mich nicht erinnern, 89 noch Angst vor den Russen gehabt zu haben, die hat man nur manchmal durch den Wald fahren sehen, und dann sind sie in einer Wolke von süßlich stinkenden Abgasen verschwunden.

Aber wir haben es ja dreimal erlebt, dass sie gekommen sind, 53, 1956 in Budapest und 1968 in Prag. Erst als 89 die russischen Panzer nicht kamen, dachten wir, das hat eine Aussicht.

Die Partei stellte den 17. Juni als eine faschistische Reaktion dar. Aber ihr habt schon ziemlich früh erlebt, dass die Fronten nicht so klar waren.

Dein Opa wollte voller Begeisterung die neue Zeit aufbauen und ist 48 schon wieder aus der Partei geschmissen worden. Weil er als ehemaliger Sozialdemokrat seine Meinung gesagt hat. Er ist denunziert worden von einem Sekretär in der Parteileitung, von dem sich dann herausgestellt hat, dass er selbst Nazi war. Und der ist dann in den Westen abgehauen. Die haben sich scharf verhalten, um von sich selbst abzulenken. Wir hatten einen fürchterlichen Gesellschaftswissenschaften-Dozenten in Greifswald. Der wurde von seiner Frau angezeigt, dass er in der SS war. Weil er sie verdroschen hatte. Der ist dann nur ein halbes Jahr im Gefängnis gewesen und nachher wieder Dozent in Halle.

Heiner Müller, ein Autor, der mir nach der Wende eine Zeit lang sehr wichtig war, hat den 17. Juni in „Hamletmaschine“ eingebaut. Sein Hamlet ist ein Intellektueller, wie ich ihn mir oft vorgestellt habe: der zwischen den Fronten steht und sich nicht engagieren kann, weil er weiß, dass er sich so oder so schuldig macht.

Also ich muss ehrlich sagen, wer 53 noch an den Kommunismus glaubte oder an die Russen, der ist dämlich gewesen, oder er wollte es nicht sehen. Das konnte man nicht übersehen.

Ich frage mich, warum ihr die Leute nicht verstanden habt, die ich stark wahrgenommen habe, deren Bücher ich viel gelesen habe und die mein Verhältnis zur DDR geprägt haben. Leute, die im Osten Chancen bekommen haben und die, wie ich glaube, Adenauers arroganten Umgang mit ihrem Land nicht ertragen konnten.

Wir haben dort immer nur das Gute gesehen. Wir haben auch geglaubt, dass der Koreakrieg ein gerechter Krieg war. Wir hatten mehr Angst, dass bei uns die Raketen fallen, dass wir das Austragungsfeld einer Konfrontation zwischen Russen und Amerikanern werden.

Warum seid ihr dann nicht in den Westen gegangen?

Wir waren doch schon mal geflüchtet aus Ostpreußen. Sollte man wieder alles abbrechen? Man ist ja auch bodenständig. Wir hofften noch, dass es besser wird, und dachten, wir können nicht alle gehen, dann fällt die DDR den Russen in die Hände.

Also an den Russen gab es aus eurer Sicht überhaupt nichts Positives?

Damals nicht. Ich bin noch 55 auf einer Radtour im Wald gewesen, und da riefen ein paar Russen nach uns. Da sind wir wie die Verrückten durch den Wald gerast, sicher hätten die uns gar nichts getan, denke ich heute, vielleicht wollten die sich nur unterhalten.