Noch einiges offen

Der FC Bayern schickt den Lokalrivalen 1860 erstmals in dieser Saison auf einen Abstiegsplatz und will nach dem 1:0 im Münchner Stadtderby selbst wieder in den Kampf um die Meisterschaft einsteigen

AUS MÜNCHEN THOMAS BECKER

Zur Halbzeit 0:4 hinten – das drückt auf die Stimmung. Schon kurz vor dem Anpfiff musste die Nordkurve den ersten kapitalen Gegentreffer einstecken. Die Fans des TSV 1860 hatten sich an einer Choreografie versucht, weiße und hellblaue Täfelchen mitgebracht und so verteilt, dass ein Schriftzug lesbar werden sollte. Prima Idee. Dumm nur, dass das Entziffern der weißblauen Buchstabensuppe recht schwer fiel. „Sechzig“ heißt das, sagt der Nachbar zur Rechten, der zur Linken will „Sieg“ gelesen haben. Tja. Der Konter der Südkurve ist eine Demonstration der Überlegenheit: mannshohe Buchstaben, bergseeklar die Schrift: „Und draußen vor der Roten Stadt, stehen die Blauen sich die Füße platt“ – will sagen: Wenn wir vom FC Bayern in die Allianz-Arena einziehen, müsst ihr Löwen draußen bleiben. Und dann noch die drei Schlappen in der Halbzeitpause: Niederlagen in den urbayerischen Wettbewerben Fass-Anschlagen, Steinheben und Im-Dirndl-Fesch-Ausschauen. 0:4 – eine Klatsche für die leidgeprüften Löwen-Fans. Und das im 199., dem wohl letzten Derby im Olympiastadion.

Nach dem 0:1 gegen den FC Bayern steht der TSV 1860 München erstmals in dieser Saison auf einem Abstiegsplatz. Zwar mühten sich die Blauen sichtlich, ließen auch eine verbesserte Defensivarbeit erkennen, aber die Crux bleibt weiterhin das nur marginal existierende Spiel nach vorn. Gerald Vanenburg, der neue Löwen-Coach und 1999 als Spieler noch Derbysieger, fasste das Dilemma in einen Satz: „Das war kein guter Fußball.“ Torben Hofmann sagte: „Wir haben zu wenig Zwingendes rausgespielt.“ Genau genommen wurde es nur zweimal eng für Kahn: bei Agostinos Kopfball (34.) und Tyces scharfem Rechtsschuss (65.), den er großartig abwehrte. Ansonsten trat der Nationaltorwart mit einer rätselhaften Schussschwäche in Erscheinung, trat den Ball ohne Not fünfmal ins Seitenaus.

Ganz so schlimm lief es bei den Kollegen Feldspielern nicht, aber aus der auf der Titelseite des Stadionhefts angekündigten „Torejagd im Derby!“ wurde nichts. Zwar ließ Hitzfeld erstmals seit Monaten von Beginn an drei Stürmern spielen (Makaay, Pizarro, Santa Cruz), doch deren Zusammenspiel blieb oft Stückwerk: „Wir haben auch nicht gut gespielt, zu sehr in die Quere als nach vorn. Spielerisch müssen wir uns erheblich steigern“, bekannte der Trainer. In der Zentrale teilten sich Schweinsteiger und Hargreaves die Rolle des gesperrten Ballack – mit wechselhaftem Erfolg. Das Siegtor von Santa Cruz (50.) entsprang einer Kombination der Aktivposten Zé Roberto und Pizarro, der dem ewigen Talent im 109. Spiel den 25. Treffer im Bayern-Dress auflegte. Makaay und Zé Roberto hätten in den letzten Minuten nachlegen müssen, doch irgendwie passten die kläglich vergebenen Großchancen ins Bild der gesammelten Unzulänglichkeiten.

Egal, kurz nach dem letzten Pfiff war das müdeste Derby seit vielen Jahren (Beckenbauer: „Für ein Lokalderby fehlte einfach der Pfeffer“) schon abgehakt, schauten die Bayern frohgemut auf die Tabelle: „Der Vorsprung schmilzt, da ist noch einiges offen. Selbst die kühnsten Pessimisten müssen zugeben, dass Bayern noch Meister werden kann“, jubelte Hitzfeld und setzte noch einen drauf: „Wir hoffen für ganz Deutschland, dass es noch spannend wird.“ Uli Hoeneß drohte: „Ab heute greifen wir wieder an.“ Die Entschlossenheit beim Meister ist fast mit Händen zu greifen.

Ein paar Meter daneben saß die Ratlosigkeit: Gerald Vanenburg, das personifizierte Achselzucken. „Okay, das ist passiert, jetzt müssen wir weiterschauen“, sagte er. Oder: „Das Wichtigste ist, dass wir alles gegeben haben. Jetzt können wir noch ein bisschen weiterarbeiten.“ Oder: „Jetzt kommt Leverkusen, die sind zurzeit vielleicht noch besser als der FC Bayern. Vielleicht gibt es da noch etwas zu tun.“ Vor dem Spiel hatte er sich noch verhalten optimistisch gezeigt („Ich habe das Gefühl, dass alles passt“), danach klangen erste Zweifel durch: „Wenn du Zeit hast, kann die Mannschaft 50, 60 Prozent besser werden. Aber wir haben keine Zeit.“ Sollte auch das nächste Heimspiel verloren gehen, müssen sich die Löwen allmählich mit der Zahl anfreunden, die ihnen die Bayern-Fans in der Südkurve am Sonntagabend ständig vor Augen hielten: eine 2 Blau auf Weiß. 2 wie 2. Liga.