Massenmord noch immer nicht aufgeklärt

Eine Kommission hat im Auftrag der Thüringer Landesregierung das Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium untersucht. Ergebnis: Der Tathergang ist klar, aber die Vorgeschichte bleibt auch nach zwei Jahren ein Rätsel

DRESDEN taz ■ Auch zwei Jahre nach dem Massenmord in einer Erfurter Schule ist der Fall des 19-jährigen Täters Robert Steinhäuser nicht aufgeklärt. Zwar hat die Thüringer Landesregierung versucht, mit dem in der Vorwoche präsentierten Abschlussbericht der Untersuchungskommission einen Schlussstrich unter das Massaker am Gutenberg-Gymnasium zu ziehen. Doch die Vorgeschichte des Falles und die Person des 19-jährigen Attentäters Robert Steinhäuser erscheinen heute nebulöser denn je.

So listet der Bericht zwar die vielen Ungereimtheiten bei der Erteilung einer Waffenbesitzkarte und der dafür notwendigen Bescheinigung des Bedürfnisses zum Erwerb von Waffen auf. Eintragungen im Schießbuch von Steinhäusers Schützenverein sind dafür offensichtlich gefälscht worden. Die Betreiber von Schießplätzen in der Umgebung Erfurts verwickeln sich in Widersprüche oder haben Erinnerungslücken.Und: In der Bescheinigung wird kein Schießplatz genannt, auf der Schießsport mit der von Steinhäuser beantragten Schrotflinte ausgeübt werden kann.

Dennoch zeigte sich die Untersuchungskommission lediglich „erstaunt“ darüber, dass ein einziger gefälschter Eintrag im Schießbuch genügte, den Kauf dieses Gewehrs zu genehmigen. Steinhäuser benutzte es beim Töten in der Schule nur wegen einer Ladehemmung nicht. Ohne Fälschungen war hingegen die für die 16 Morde verwendete Pistole „Glock 17“ zu erwerben.

Auffällig bleibt, dass erst die fast zwei Jahre später tätige Kommission und nicht die anfangs ermittelnden Polizei und Staatsanwaltschaft auf die Widersprüche stößt. Aber auch die Kommission geht den Ungereimtheiten nicht auf den Grund. Möglicherweise auch deshalb, weil Exinnenminister Christian Köckert (CDU) Ehrenmitglied im Steinhäusers Schützenverein „Domblick“ ist. Merkwürdig auch: Der Bereitschaftspolizist Thomas Birnbaum, der Steinhäuser im Verein an der Waffe ausgebildet hat, wird nicht nach dem Persönlichkeitsprofil des Täters befragt. Dabei war Birnbaum selbst am Einsatz gegen Steinhäuser beteiligt.

Es ist unwahrscheinlich, dass Robert Steinhäuser nicht in irgendeiner Weise aufgefallen sein sollte. Allein die 3.500 Mark, die der Neunzehnjährige für seine Mordausrüstung ausgab, müssen Misstrauen erregt haben. Haben die Eltern sein Waffenlager nie bemerkt? Die Kommission hat immerhin sechs Freunde Steinhäusers ermittelt, die von seinem Waffenbesitz wussten. Klassenkameraden nahmen verbale Drohungen eines Amoklaufes aber nicht ernst.

Der Abschlussbericht lässt auch offen, wie Steinhäuser weit mehr als die zulässigen Munitionsmengen und schwereren Schrot als die vorschriftsmäßigen 24 Gramm erwerben konnte. Völlig ignoriert wird die Frage, wer die Pumpgun umbaute und ihr an Stelle des Anschlagkolbens den inzwischen verbotenen Pistolengriff ansetzte. Ein Kenner der Szene sagte der taz, dass es für solche Umbauten in Erfurt einen Spezialisten gäbe. Derselbe Informant sagt auch, dass sich in der Kampf- und Schießsportszene Erfurts noch zahlreiche ehemalige Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit tummeln.

Erst bei einer Sitzung des Landtags-Bildungsausschusses in der Vorwoche teilte Kultusminister Michael Krapp (CDU) mit, dass Gutenberg-Direktorin Christiane Alt bereits drei Tage nach dem Massaker eine Missbilligung ausgesprochen worden war. Der dem Anschlag vorausgegangene Schulverweis Steinhäusers sei nicht korrekt gewesen. Dessen Unverhältnismäßigkeit rügte auch die Kommission. Inzwischen deckte die Thüringer Zeitung Freies Wort auf, dass es einen ähnlich umstrittenen Verweis 1994 schon einmal an der Schule gegeben hatte.

MICHAEL BARTSCH