Die siegende Verliererin

Angela Merkel – von der „Kanzlerin im Glück“ zur Verwalterin einer „Gesellschaft auf Treibsand“? Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Kessler und Wolfgang Storz sezieren zum Wahljahr 2009 die Politik der großen Koalition

VON AGNES STEINBAUER

Angela Merkel ist eine „Scheinriesin“, deren „Erfolge“ bei näherem Hinsehen schrumpfen, glauben die Publizisten Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Kessler und Wolfgang Storz. In der jetzigen Finanzkrise ist das Monument Merkel denn auch heftig ins Wanken geraten. In ihrem Buch „Alles Merkel? – Schwarze Risiken, Bunte Revolutionen“ geben die Autoren einen Gesamtüberblick über ihr politisches Wirken; nicht in Form einer Analyse der aktuellen Situation, sondern in Form eines Rückblicks auf die Politik der großen Koalition. Dabei sehen sie eine „Gesellschaft auf Treibsand“, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, deren politische Elite aber keine nachhaltigen Lösungen anzubieten hat.

Die Regierung agiere wie eine „unfreiwillige Vereinigung von Verwaltern“, kritisieren sie. Rund 2,5 Millionen Kinder in Deutschland lebten mittlerweile in prekären Verhältnissen und circa 6 Millionen Menschen arbeiteten für Löhne unter 7,50 Euro Stundenlohn. Trotzdem gelte die rot-grüne Agenda 2010 noch immer als geglückte Sozialreform; damals von der Union gebilligt, heute von Schwarz-Rot weitergeführt. Die Regierung Schröder habe Vorarbeit für ein „fortschreitendes Gerechtigkeitsproblem“ in Deutschland geleistet, glauben die Autoren und zitieren im Kapitel „Der unsoziale Mut“ SPD-Fraktionschef Peter Struck mit dem Satz: „Unsere traditionelle Position, von den Reichen nehmen, um den Armen zu geben, kann nicht länger die Politik unserer modernen Gesellschaft sein.“ Die schwarz-rote Regierung habe solche Positionen problemlos übernehmen können.

Auch die viel gepriesene Stärke des „Exportweltmeisters Deutschland“ werde – nicht nur angesichts der globalen Wirtschaftskrise – immer fragwürdiger. Selbst wenn in guten Zeiten der Absatzmarkt im Ausland gesichert ist, stecke Deutschland in der „Exportfalle“, denn die Schattenseiten einer boomenden Exportwirtschaft seien Billiglöhne im Inland und damit sinkende Kaufkraft. Was für ein Aufschwung hat da also in den Boomjahren der Kanzlerin stattgefunden? Nach Meinung der Autoren ist Angela Merkel eine „Kanzlerin im Glück“. „Kaum im Amt, boomt die Wirtschaft, die Zahl der Arbeitslosen ist Mitte 2008 so niedrig wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr“, schreiben sie.

Heißt von Angela Merkel lernen also siegen lernen? Für Arlt, Kessler und Storz sind es die „Siege einer Verliererin“. Die „Stärke“ der Kanzlerin, die sich in ihrer Glanzzeit in gleichbleibend guten Umfragewerten manifestierte, beruhe vor allem auf ihrer Fähigkeit als smarte Moderatorin, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ob es ihr gelingt, ihr gegenwärtig angeschlagenes Image etwa als „Klimakanzlerin“ vor den Bundestagswahlen wieder zurechtzurücken, bleibt abzuwarten. Dennoch: So wichtige Themen wie Familien- oder Frauenpolitik als „Gedöns“ abzutun, wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder – „ein solcher Fehler würde ihr nie unterlaufen“, so Wolfgang Storz. Sie habe die CDU modernisiert wie niemand vor ihr, so Storz, Deutschland aber kaum.

Die innenpolitischen „Highlights“ der letzten Jahre beschränkten sich auf die Rente mit 67, die für viele eine Kürzung ihrer Altersbezüge bedeute, und auf die Mehrwertsteuererhöhung, die besonders für Menschen mit wenig Geld nachteilig ist. Auch die sinkenden Arbeitslosenzahlen, die Angela Merkel immer wieder als Erfolg ihrer Regierungspolitik verbuchte, überzeugen die Autoren nicht. Es sei der Arbeitsmarkt der prekären Jobs, der wachse, kritisieren sie. Stark erhöht habe sich etwa die Zahl der Leiharbeitnehmer. Laut Bundesagentur für Arbeit waren im Jahr 2005 rund 450.000 Leiharbeiter gemeldet, Ende 2007 bereits 800.000.

Diese Entwicklungen vor Augen, fehle es den politisch Verantwortlichen dennoch an grundlegenden Reformideen zur gerechteren Umverteilung in der Gesellschaft. Mit der neuen Erbschaftsteuer betreibe die große Koalition eine „gigantische Entlastung“ für alle reichen Erben, und an eine Alternative zur von Schröder ausrangierten Vermögensteuer traue sie sich bis heute nicht heran. Der SPD fielen – außer der Forderung nach Mindestlöhnen – auch keine Wege aus der Krise ein.

Im Kapitel „Aufbruch“ breiten die Autoren ihre Zukunftsvisionen aus. Mit „konkreten Riesenschritten“ wollen sie in Richtung „Grundeinkommen“ und „Ökobonus“ marschieren und rechnen Beispiele dazu vor: Eine allein erziehende Mutter erhält monatlich 750 Euro und für jedes ihrer beiden Kinder jeweils 250 Euro, macht zusammen 1.250 Euro Grundeinkommen. Wenn die Kinder größer sind und die Frau eine Teilzeitstelle für beispielsweise 1.200 Euro im Monat annehmen kann, wird die darauf fällige Steuer nicht von ihrem Gehalt, sondern von diesem Grundeinkommen abgezogen. Eine einfache Maßnahme, die zu gerechterer Umverteilung führen würde, finden die Autoren. Denn je höher das Gehalt und die darauf fällige Steuer, desto weniger Grundeinkommen würde ein Arbeitnehmer bekommen, bei Vielverdienern würde es ganz entfallen, andere aber würden davon profitieren. Für Wolfgang Storz entstünde damit außerdem ein kleiner Unterschied zur bisherigen Situation mit großen Folgen: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik würde Hausfrauen- oder Hausmännerarbeit bezahlt.“

Über ein „Bürgergeld“, ein „Grundeinkommen“ oder eine „negative Einkommensteuer“ haben die meisten Parteien schon nachgedacht. Die Idee ist also nicht neu, aber deswegen nicht weniger plausibel. Die Kritik der Autoren am veralteten Sozialversicherungssystem hält sich jedoch in Grenzen, einem System, bei dem – wie sie andererseits selbst schreiben – die Kassen leer sind, wenn das Geld gebraucht wird, nämlich in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. Dennoch: Es lohnt sich, das Buch zu lesen. Arlt, Kessler und Storz legen eine anregende, scharfsinnige Analyse der Zusammenhänge zwischen Politik und Gesellschaft vor. Ihre Kritik an der großen Koalition ist deutlich, trotzdem langweilen sie nie mit platter Politikerschelte.

Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Kessler, Wolfgang Storz: „Alles Merkel? Schwarze Risiken, Bunte Revolutionen“. Publik-Forum Edition, Oberursel 2008, 253 Seiten, 15,80 Euro