Das Haus, in dem man Polnisch lernt

Das Gebäude der Volkshochschule Mitte in der Linienstraße 162 wurde einst auf einem Gräberfeld errichtet. Inzwischen spiegelt es als eine Art architektonische Collage die verschiedenen Nutzungen der letzten 100 Jahre

Das Gebäude der Volkshochschule Mitte in der Linienstraße 162 ist auf ein „Gräberfeld“ gebaut, berichtet Achim Smit. „Im Keller fanden wir Knochen. Von Erwachsenen, von Kindern, auch von Tieren“, erzählt der Leiter des Sprachprogramms. Unwahrscheinlich ist das nicht, denn noch vor 200 Jahren lag der Ort, auf dem das Haus steht, vor den Toren Berlins. Friedhöfe für die Armen, die Selbstmörder und die Gehenkten lagen jenseits der Mauern der Stadt. Warum also nicht hier?

Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in dieser Gegend nördlich der Oranienburger Straße dann allerdings rege Bautätigkeit. Der damalige Stadtbaurat, Ludwig Hoffmann, ist der Architekt des Gebäudes in der Linienstraße.

Hoffmann, dessen Baustil nach dem Ersten Weltkrieg von den funktionalen Formen des Bauhauses abgelöst wurde, gilt in seiner Architektur als „ein Ordner, ein Gruppierer, ein Resümist“. Wenn auch als einer, dem architektonisches Pathos anhängt. „Baukunst – sichtbar gemachter Herzschlag des Volkes, gestaltete Sehnsucht nach Schönheit“. Solche Gefühle wollte er in seinen Gebäuden verwirklicht sehen.

Hoffmanns 1911 fertig gestellte Schule steht heute unter Denkmalschutz. Symmetrisch angelegt ist sie. Die frühbarocke Fassadengliederung aus Sandstein und die Podesttreppe geben ihr den Charme eines etwas zu groß geratenen Gutshauses, dessen Eleganz im Schatten der umstehenden Häuser in der engen Straße nicht wirklich zur Geltung kommt.

Bis 1962 war die Linienstraße 162 eine Berufsfachschule. Glaser, Goldschmied, Uhrmacher, Schuhmacher, Sattler wurden hier unterrichtet. Diese Tradition wird heute fortgeführt, denn vor allem kunsthandwerkliche Kurse finden hier statt.

Das Gebäude verheimlicht die 100-jährigen Spuren der Geschichte, die es geprägt haben, nicht. Nach klassischer Schönheit strebende Architektur trifft auf funktionale Improvisation zu DDR-Zeiten, Mangelwirtschaft auf künstlerischen Überschwang. Die Treppenhäuser spielen mit jener Art verdrehter Perspektiven, die in ihrer Strenge zugleich als Vorlage für Schlemmers Bilder dienen, in ihrer perspektivischen Verschachtelung aber auch als architektonische Trompe l’Oeils, wie Escher sie kultivierte. So kündigen sie die Moderne, allem klassischen Streben zum Trotz, bereits an. Widersprüche im Kleinen gibt es auch: Das Klassenzimmer, in dem der Polnischkurs stattfindet, der auf ein neues Europa verweist, strahlt eine Atmosphäre des Verfalls aus. Der strenge Geruch nach Plastik vermischt sich mit dem nach dem Staub auf dem graugrünen Anstrich der Wände. Abflussrohre ziehen sich in einer Ecke durch den „gefangenen“ Raum, der keine Tür zum Flur hat.

Um in das Zimmer zu kommen, muss ein anderes durchquert werden. Dort wird Japanisch gelernt. Wie das Gräberfeld ist auch dies eine Symbolik, die es zu überlisten gilt.

WALTRAUD SCHWAB