Jenseits aller Kontrolle

Von einer Gesellschaft, die mit den brachialen Fragen einer geistig Behinderten nicht umgehen kann: Das Theater Basel gastierte mit Bärfuss‘ „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ am Thalia

von LIV HEIDBÜCHEL

D wie Dachschaden. Dachschaden mit D(ora). Eine Dora mit Dachschaden ist in Lukas Bärfuss‘ Stück Die sexuellen Neurosen unserer Eltern die Hauptfigur. Wie sie mit ihrer nicht näher definierten geistigen Behinderung jegliche Norm in Frage stellt, zeigte am Freitag eine hervorragende Inszenierung vom Theater Basel, zu Gast bei den Autorentheatertagen am Thalia Theater: eine gelungene Balance zwischen widerstreitenden Gefühlen im Umgang mit Andersartigkeit, eine unglaubliche Verbindung von Witz und Traurigkeit, und das alles gespielt von einem großartigen Ensemble, allen voran Sandra Hüller als Dora.

Das Stück beginnt in einer Arztpraxis, „an einem fahlen Nachmittag“. Mutter und Arzt entscheiden, dass mit den Unmengen an Medikamenten für Dora Schluss sein soll: „Willkommen in der Welt!“, ruft die Mutter begeistert. Und meint eine Welt, die sich mit Pillen im Grunde weit besser aushalten lässt. Denn im vermeintlich bezaubernden wahren Leben entwickelt sich die ausgenüchterte Dora mehr und mehr zum Störenfried. So fahl wie der Nachmittag ist Doras Kleidung in Flieder und Beige. Weil es am praktischsten ist, trägt die Mutter die gleichen Farben und gibt auch sonst den Ton an: Sie liefert die verbalen Vorlagen, Dora reproduziert das Gehörte. Sie begreift fast nichts vom Inhalt, filtert ihn jedoch genau durch ihr Unverständnis. Deutlicher könnte kaum werden, zu welch hohlen Phrasen der Mensch täglich greift.

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss verleiht in Die sexuellen Neurosen unserer Eltern der Sprache und damit ihren Benutzern Nuancen, die Bekanntes und tausendmal Gesagtes in völlig neuem Licht erscheinen lassen. Gekonnt spielt er mit sämtlichen Klischees im Ausdruck, in Barbara Freys Inszenierung virtuos und oft wahnsinnig komisch vom Baseler Ensemble umgesetzt.

Sandra Hüller spielt ihre Dora als außerhalb jeglicher Kontrolle Agierende. Wenn andere sie als Engel bezeichnen, so ist das bloße Schutzbehauptung. Denn Dora ist eine leicht entzündliche Bombe, die jede Konvention in Sekunden sprengen kann. Dabei will sie nur dem auf den Grund gehen, was sie nicht versteht. Und das ist eine Menge. In ihrer brachialen, naiven Art traut sie sich Fragen zu, die anderen nie einfallen würden, wie etwa die nach den Sexneurosen der Eltern. Doch diese Offenheit muss bestraft werden. Schließlich hat nicht jeder hat das Recht auf Fragen, geschweige denn auf Antworten. Bei den feingeistigen Eltern und dem Arzt geht das Gemeinsein subtilere Wege, für Doras Chef, den Gemüsemann, und „den feinen Herrn?“ sind edle Sitten ein Fremdwort.

Glücklicherweise widersteht die Regisseurin der Möglichkeit, die Behinderte einfach als die eigentlich Gesunde in einer kranken Welt darzustellen. Dora ist intensiv und schwierig. Aber auch liebenswert mit ihrer Frisur wie aus dem Bett gefallen und ihrer abgestumpften Art, mit Verletzungen umzugehen. Die Regisseurin fächert auf, für welche Projektionen ein gesellschaftlich nicht akzeptierter Mensch herhalten muss: Für alle. Denn Dora wird rücksichtslos benutzt. Im Umgang mit ihr zeigt jeder sein hässlichstes, aber auch sein ehrlichstes Gesicht. Wenn etwa der Arzt euphorisch über die Regeln beim Sex monologisiert, legt er vielmehr Zeugnis über seinen eigenen Zustand ab. Und im Gegensatz zu Freuds Studie „Der Fall Dora“ (1905) darf Bärfuss‘ Dora jetzt immerhin vom Sex wissen. Einmal entdeckt, praktiziert sie reichlich und wird zu allem Übel noch schwanger. Die Zeit, in der das Schaumbad Höhepunkt der Woche war, istendgültig vorüber. Es ist die Umwelt, die mit Doras Autarkie die größten Probleme hat. Und „was lernt uns das“? Dora ist eben nur der Anfang vom Dachschaden. Tosender Applaus.