Grenzerfahrungen

Preview im Abaton: „Lichter“, ein Episodenfilm um die deutsch-polnische Grenze. Bei der Berlinale ging er leer aus, jetzt ist er für die Bundesfilmpreise nominiert worden – einen Preis hätte er allemal verdient

Die Lichter am abendroten Horizont verheißen die Freiheit. Es sind die Lichter Berlins, sagt der Schlepper zu der Gruppe Ukrainer. Dorthin sollen die Migranten jetzt alleine weitergehen. Bald merken sie, dass sie nicht einmal in Deutschland sind. Sie sind vor der polnisch-deutschen Grenze abgesetzt worden. Sie wurden verarscht.

Dieser Betrug ist der erste in einer langen Kette, die sich als roter Faden durch die Episodenstränge von Hans-Christian Schmids Lichter zieht (Nominierungen für Beste Regie, Bester Spielfilm). Die Grenze teilt nicht nur Frankfurt/Oder und Slubice, sie schiebt sich auch als soziales Faktum zwischen die Menschen. Sie sind angespornt von Lichtern und Irrlichtern. Doch die Verzweiflung hinter ihren vagen Hoffnungen ist so groß, dass sie einander darüber verraten.

Zum Beispiel Kolja, einer der gestrandeten Ukrainer. Er wird beim Versuch gefasst, die Oder auf eigene Faust zu überqueren. Eine Polizeidolmetscherin hilft ihm bei der Flucht und bringt ihn nach Berlin. Dennoch stiehlt ihr Kolja die Kamera aus dem Wagen. Oder Antoni, ein gutmütiger polnischer Taxifahrer. Er verspricht einem Paar mit Kind, für ein paar Dollar die Grenzpassage zu organisieren. Im letzten Moment bestiehlt er sie, um seiner Tochter ein Erstkommunionskleid kaufen zu können. Das Fressen kommt vor der Moral; in diesem Fall zu ergänzen: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein.

Eine andere Konstante in Lichter ist das Missverständnis, die zwischenmenschliche Blindheit. Da ist der Selfmade-Geschäftsmann Ingo gerade dabei, seinen Franchise-Matratzenladen an die Wand zu fahren. Dass sich eine ehemalige Mitarbeiterin in ihn verliebt, kann Ingo in seinem einsamen Selbständigkeitswahn nicht wahrnehmen; Darsteller Devid Striesow (Bungalow, Mein erstes Wunder), der jetzt bei der Preview im Abaton dabei sein wird, wurde für seine tragikomische Atemlosigkeit als Bester Nebendarsteller nominiert. Oder Philip (August Diehl), ein junger Architekt aus Berlin, der seine frühere polnische Freundin Beata (Julia Krynke) nach Jahren wiedertrifft. Er macht ihr wieder den Hof – vergeblich: Er sieht nicht, dass er sie seinerzeit der Karriere geopfert hatte.

Was die Figurenzeichnung angeht, neigt Lichter zum Typisierenden, das wurde in den Berlinale-Rezensionen oft kritisiert. Zu Unrecht: Denn nicht nur sind diese Typen durchweg adäquat besetzt und gespielt. Regisseur Schmid (23, Crazy) balanciert außerdem das Repräsentative der Einzelschicksale mit individuellen Motiven. So klaut Kolja die Kamera nicht allein aus Geldgier, sondern auch, weil er einem Freund Fotos vom fertig gestellten Potsdamer Platz schicken will.

Lichter verfolgt einerseits den richtigen Ansatz, dass eine Gesellschaft nur von ihren Rändern her zu verstehen ist, vom Gesetz ihrer Ausgrenzungen. Andererseits handelt jeder in Lichter als Einzelner, in einem Spielraum, auch wenn er glaubt, den nicht nutzen zu können, betrügen zu müssen. Schmid enthält sich eines abschließenden Urteils darüber, ob die Landesgrenze an den Grenzen zwischen den Menschen schuld ist oder umgekehrt. Er reduziert Moral nicht auf Politik. Deshalb die besondere Trostlosigkeit dieser Schicksale des Versagens. Zugleich verbürgt aber schon die Existenz eines Spielraums die Möglichkeit von Solidarität. Deshalb der besondere Hoffnungsfunke in diesen Schicksalen. Auch wenn die Protagonisten blind für ihn sind.

JAKOB HESLER

Preview (mit Devid Striesow): Donnerstag, 20 Uhr, Abaton; der Film startet am 31.7.