Mein lieber Herr Gesangsverein

30 billig gekleidete Nordmänner aus der finnischen Tundra frönen einem besonderen Sport: Sie brüllen alles vom Kinderlied bis zur Nationalhymne – jetzt sind „Mieskuoro Huutajat“ nach Jahren wieder einmal in Hamburg zu Gast

Auch anspruchsvolles Publikum wird die Qualitäten des Chors nicht leugnen können

von GREGOR KESSLER

Horrorkönig Stephen King ist schuld. Vielleicht auch John McEnroe. Und natürlich, vor allen anderen, Mama und Papa. Sie alle haben dafür gesorgt, dass das Schreien gleichbedeutend geworden ist mit „die Kontrolle verlieren“. Kaum erheben wir die Stimme einmal über das gängige Maß hinaus, wirft die Umgebung uns Blicke zu, die zu sagen scheinen: Husch Husch, zurück in die Höhle! Hier bei uns, in der Zivilisation, schreit nur, wer seine Gefühle nicht im Griff hat: Barbaren.

Petri Sirivö aus dem nordfinnischen Städtchen Oulu sieht das ganz anders. Den Leiter des zwischen 30 und 40 Köpfe zählenden Männerchors Mieskuoro Huutajat, dem „Chor der schreienden Männer“, interessiert die bewusste Entscheidung für das Schreien. Eine Entscheidung, die das Kultivieren des Schreiens überhaupt erst ermöglicht. Sirivö möchte ihm einen neuen Platz in der Zivilisation geben. Und seine Erfolge auf dieser Mission können sich sehen lassen.

Seit Sirivö 1987, anlässlich des finnischen Unabhängigkeitstages, eine Reihe von Freunden zusammentrommelte, sie in weiße Hemden und schwarze Anzüge steckte und ein paar ihrer Lieblingslieder schreien ließ, ist viel passiert. Der Chor trat zwischenzeitlich bei den Salzburger Festspielen und in der Züricher U-Bahn auf, im Vorprogramm der Pet Shop Boys ebenso wie bei einer Tagung der EU-Handels- und Industrieminister. Die Versammlung von Schreihälsen wurde schnell zum bekanntesten Chor Skandinaviens.

Dass auch 16 Jahre nach seiner Gründung noch immer nicht ganz klar ist, ob Huutajat sich nun als ernsthafter Chor oder als Persiflage gängiger Klischees verstehen, erklärt ihre breit gestreute Anhängerschaft. Für beide Lesarten finden sich Indizien: So erschöpft sich die musikalische Leistung des Chors bei weitem nicht im einstimmigen Schreien. Über die Jahre hinweg hat Huutajat ihre Ausdrucksformen weitgehend diszipliniert. Heute seziert, rhythmisiert und prononciert der Chor seine Melodien mit einer geradezu militärischen Präzision, so dass auch anspruchsvolles Publikum seine musikalischen Qualitäten nicht wird leugnen können.

Andererseits zeugt die Materialwahl des Brüllchors – das Repertoire reicht von Kinderliedern über Nationalhymnen bis hin zu internationalem Vertragswerk – von einer angenehmen ironischen Distanz zu anderen Gesangsvereinen. Durch das martialische Auftreten des Chors wird sie noch verstärkt. So posieren die Huutajat-Mitglieder auf dem Cover ihrer ersten CD bei schneidendem Wind und 15 Grad unter null am steinigen Ufer des Eismeers – bekleidet lediglich mit den obligatorischen billigen schwarzen Anzügen. Dass Schreien bei Huutajat gleichermaßen als Kunst und als Sport begriffen wird, zeigt sich auch in den relativ knappen Auftrittszeiten: Länger als 30 Minuten zu brüllen, ist auch der kräftigsten Kehle nicht zuzumuten. Den Zuhörern womöglich auch nicht.

Damit es dennoch ein runder Abend wird, wenn Huutajat nun erstmals seit sieben Jahren wieder in Hamburg gastieren, wird vor Beginn des Konzerts eine handverlesene Auswahl finnischer Kurzfilme zu sehen sein. Zudem wird der einschlägig wohl bekannte DJ Litmanen tief in seiner finnischen Musikalientruhe graben.

Dienstag, 21 Uhr, Rote Flora