Ohne Entwaffnung sind nicht nur Afghanistans Wahlen gefährdet

Im Juni 2004 soll am Hindukusch gewählt werden. Doch noch fehlen eine unabhängige Wahlkommission und ein Parteiengesetz. Demokraten beklagen Einseitigkeit

In der Verfassungskommission sitzen zu viele Warlords und keine Demokraten

KABUL taz ■ Ein Jahr vor den geplanten ersten freien Wahlen in Afghanistan warnen ausländische Experten und die demokratische Bewegung des Landes erstmals öffentlich davor, dass eine ausbleibende Entwaffnung der Warlords nicht nur die Wahlen, sondern den gesamten Friedensprozess gefährden könnte.

Am deutlichsten wurde der japanische Professor Kenji Isezaki, Sonderbeauftragter der Tokioter Regierung, über den „DDR“ (Disarmament, Demobilisation and Reintegration, also Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration) genannten Prozess. „Ohne Entwaffnung sind freie Wahlen unmöglich“, sagte er vergangene Woche auf einer Konferenz in Kabul zum Thema „Die Wahlen 2004 und die Sicherheit“. Die Konferenz war von der Nationalen Front für Demokratie Afghanistans (NFDA) veranstaltet worden, einem im März gegründeten Bündnis von fast 50 neuen politischen Gruppen.

Das afghanische Verteidigungsministerium müsse endlich „eine ethnische und politische Balance“ an seiner Spitze herstellen, forderte Isezaki. Das war eine deutliche Aufforderung an Verteidigungsminister Mohammed Qasim Fahim, endlich die immer wieder verzögerte Reform der Sicherheitskräfte umzusetzen. Fahim hat fast alle Spitzenposten mit seinen aus dem Pandschir-Tal stammenden tadschikischen Fraktionsfreunden besetzt. Isezaki bekam für seine deutlichen Worte viel Applaus, ein Ausdruck dafür, dass das Recht auf freie Rede und Kritik in Afghanistan auch nach fast 18 Monaten Karsai-Regierung noch keine alltägliche Erscheinung ist.

Mit dem Japaner hat damit erstmals ein offizieller Vertreter der internationalen Gemeinschaft angedeutet, dass die Wahlen verschoben oder abgesagt werden könnten. Nicht nur Tokio denkt in diese Richtung. Auch die Afghanistan-Mission der Vereinten Nationen unter dem Sonderbeauftragten Lakhdar Brahimi scheint endlich einzusehen, dass die Warlords eher Teil des Problems als Teil der Lösung der Afghanistan-Frage sind.

„Anhaltende Unsicherheit und die Abwesenheit von effektiven Rechtsinstitutionen“, hatte Brahimi in seiner letzten Unterrichtung des Weltsicherheitsrates Anfang Mai gewarnt, „ermöglichen es nicht nur lokalen Kommandeuren und Regierungsvertretern, ungestraft zu handeln, sondern bedrohen auch den immer noch fragilen Friedensprozess.“ Dazu sagte Tareq Osman, Ex-Mudschahed und jetzt Teil der demokratischen Bewegung: „Brahimi sagt jetzt, was wir schon seit anderthalb Jahren zu vermitteln versucht haben.“

Auch Afghanistans Demokraten reden zunehmend Klartext. NFDA-Sprecher Abul Ahrar Ramezpur, Dozent an der Kabuler Rechtsfakultät, warf der UNO vor, zugelassen zu haben, dass Präsident Karsai die Kommission, die die Verfassung ausarbeiten soll, mit Vertretern der „militärisch-politischen Fraktionen“ – sprich den Warlords – füllen konnte, während die Demokraten außen vor blieben. Es gebe bisher weder ein Wahl- und Parteiengesetz noch eine unabhängige Verfassungskommission, klagte er.

Zentralbankchef Anwar-ul-Haq Ahady, Karsai nahe stehend und gleichzeitig Chef der Partei „Afghanische Nation“, kritisierte, dass der Wahlprozess bisher faktisch nur aus unbeantworteten Fragen bestünde: Wer dürfe wählen? Welches Wahlsystem werde angewandt? Werde anhand von Parteilisten nach Verhältnis- oder in Wahlkreisen nach Mehrheitswahlrecht gewählt? Werde die Staatsform eine parlamentarische oder präsidiale Demokratie sein? Auch werde der bereits ausgearbeitete, aber noch nicht veröffentlichte Verfassungsentwurf vor der Bevölkerung „verborgen gehalten“.

Rahim Paschtunjar, Arzt und jüngst aus dem Exil zurückgekehrter Demokratie-Aktivist – er floh vor der sowjetischen Besatzung ins benachbarte Pakistan und von dort bedroht von den Taliban später in die USA –, machte deutlich, dass für die Warlords durchaus Platz im künftigen Afghanistan sei, „wenn sie ihre Milizen entwaffnen und ihre Organisationen zivilen Charakter annehmen“.

Wie schwierig das sein wird, machte Sebghatullah Zaki, Sprecher eines Warlords und Vertreter des reformbereiten Flügels von dessen „National-Islamischer Bewegung“ deutlich. „Wir stehen voll hinter dem DDR-Prozess“, sagte er der taz, „aber es muss eine wirkliche Entwaffnung sein. Und die muss im Verteidigungsministerium anfangen.“ Zwar habe die Entwaffnung in einigen Gebieten bereits begonnen, doch häufig verteilten die Anhänger von Verteidigungsminister Fahim die Waffen wieder an eigene Leute.

Für viele afghanische Demokraten ist das Zukunftsmusik. „Die Bedingungen für faire und freie Wahlen sind bisher nicht gegeben“, fasste Chodscha Scher Patscha Qijam zum Ende der Konferenz die NFDA-Position zusammen. Karsai und Brahimi haben bis zum anvisierten Wahltermin im Juni 2004 noch viel Arbeit. JAN HELLER