35 STUNDEN IM OST-STAHL: KEINE FRAGE DER MORAL
: Jede Menge Wenn und Aber

Das Interessante an Arbeitskämpfen liegt darin, dass für Pro und Contra immer auch moralisch argumentiert wird. In Wirklichkeit aber sind Streiks ganz schlicht Machtkämpfe, in denen beide Seiten ihre Instrumente ausspielen. Das gilt auch für den Kampf um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland, der besonders für die westdeutsche Öffentlichkeit so deplatziert wirkt. Die ostdeutsche Stahlbranche hat jetzt abgeschlossen. Von „Erpressung“ sprechen die Arbeitgeber. Doch die Wirklichkeit hat mit solchen moralischen Argumenten nichts zu tun.

Denn selbstverständlich üben auch die Arbeitgeber immer Druck aus, auch sie „erpressen“ mit angedrohten Arbeitsplatzverlusten, wenn es um ihre Interessen geht. In der Hälfte der tariflich organisierten ostdeutschen Metallbetriebe verzichten Beschäftigte auf tarifliches Urlaubs- oder Weihnachtsgeld oder arbeiten länger als die bisher geltende 38-Stunden-Woche, weil sich der Betrieb in einer prekären wirtschaftlichen Situation befindet. Längst gilt nicht mehr, was in einer Flächenvereinbarung geregelt wurde, sondern das, was Gewerkschafter, was Betriebsräte vor Ort in den Unternehmen zulassen. Und da ist die 35-Stunden-Woche im Osten noch weit.

Auch die Einigung der Stahlbranche, die ohnehin nur 8.000 Beschäftigte in sieben Unternehmen betrifft, kann zeitlich nach hinten gestreckt werden, wenn die wirtschaftliche Situation sich verschlechtert. Und die Firmentarifverträge über die Einführung der 35-Stunden-Woche, die schon in vier sächsischen Metallunternehmen vereinbart wurden, beinhalten jede Menge Wenn und Aber. Beim Automobilzulieferer ISE in Hainichen ist zwar die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche per Firmentarifvertrag beschlossene Sache, gleichzeitig aber mit einer Härtefallregelung bis zum Jahre 2008 ausgesetzt. Als „window dressing“ bezeichnen Arbeitgeber diesen Umgang mit den Tarifverträgen. Es geht beim Kampf um die 35-Stunden-Woche nicht um die Moral, sondern um etwas Arbeitszeit und viel Optik. Wenig Grund, sich zu empören. BARBARA DRIBBUSCH