Massaker als europäische Normalität

Für den Historiker Mark Mazower ist der Balkan ein ganz normaler Teil unseres Kontinents. Das schließt auch extremen Nationalismus wie im Exjugoslawien der Neunzigerjahre und ethnische Säuberungen ein

Mark Mazowers Buch „Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert“ wurde bei seinem Erscheinen vor drei Jahren als großer Wurf gefeiert. Der Brite lieferte darin eine pessimistische Interpretation des ideologischen Zeitalters in Europa. In seinem jüngsten Werk, „Der Balkan“, bietet Mazower nun weniger Interpretation als einen erstklassigen geschichtlichen Überblick zu einer peripheren Region Europas.

Die Geschichte Südosteuropas ist nach wie vor eine ideelle Terra incognita, die von Klischees umstellt ist. Mazowers Buch ist Medizin gegen diese Vorurteile: ein sachkundiger historischer Leitfaden. Dabei ist der Autor kein Freund der großen Thesen und schnellen Abrechnungen, sondern einer der intimen Kenntnis und des abwägenden Verständnisses. Als Historiker, der sich vor allem mit neuer Geschichte – etwa mit dem Judentum in Thessaloniki oder dem Besatzungsregime der Wehrmacht in Griechenland – beschäftigt hat, verfügt er über die notwendige Tiefenschärfe für eine solche Betrachtung.

Zeitlich schlägt Mazowers Darstellung den Bogen von der osmanischen Eroberung Südosteuropas, die dem „Balkan“ seinen (alttürkischen) Namen gab, bis zur Kosovo-Intervention der Nato im Jahre 1999. Für den Autor stehen dabei soziale Veränderungsprozesse im Mittelpunkt, die aus den anationalen, bäuerlichen Gesellschaften Südosteuropas nach und nach moderne Nationalstaatsprojekte wie Griechenland, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Albanien oder auch Jugoslawien wachsen ließen. Die Ereignisgeschichte wird dabei bewusst vernachlässigt: Sie wird auf den ersten Seiten in einer Zeittafel gleichsam abgehakt. Mehr interessieren Mazower Institutionen wie die orthodoxe Kirche und ihre langfristige geistesgeschichtliche Prägewirkung oder Strukturen wie die ethnische Gemengelage aus Slawen, Vlachen, Griechen, Albanern, Aromunen und Türken.

Nach einer kritischen Einführung in das westliche Balkanbild und einer soziogeografischen Schilderung der Halbinsel zwischen Adria, Ägäis und Schwarzem Meer widmet sich Mazower dem Ausgangspunkt des Wegs in die Moderne: der Herrschaft der Osmanen in Südosteuropa. Besonders hebt er hervor, dass die Bevölkerung in diesem „Rumeli“ (Römerland) genannten Teil des Osmanischen Reiches bis weit ins 19. Jahrhundert über keinerlei nationales Bewusstsein verfügte, sondern sich sozial als Bauern oder Hirten oder aber religiös als Christen oder Muslime definierte.

Die Durchsetzung der Nationalidee und des Nationalstaats interpretiert er als das Leitmotiv der Balkangeschichte der letzten 200 Jahre. Sie dauerte vom Abwerfen der osmanischen Herrschaft in langwierigen Aufständen über die Begründung dynastischer Monarchien und die Modernisierung bis heute. Sein Resümee: „Der lange Kampf, einen Nationalstaat zu schaffen – als dessen letzte Phase der Jugoslawienkrieg betrachtet werden kann –, hatte das ganze 20. Jahrhundert gedauert. Die Ironie war, dass genau in dem Augenblick, in dem der Kampf zu Ende ging, wirtschaftlich und politische Veränderungen auf internationaler Ebene die Idee des Nationalstaates in Frage stellten.“ Die Balkannationalisten sind also auch Globalisierungsverlierer.

Derartige implizite Vergleiche mit der Geschichte Westeuropas durchziehen das ganze Buch. Im Epilog „Über Gewalt“ wendet sich Mazower dann explizit gegen das westliche Stereotyp, die Balkangeschichte sei eine einzige Ansammlung von Massakern. Dagegen verweist der Brite auf „die ethnischen Säuberungen“ in anderen Teilen Europas, die zeigten, dass Gewalt auf dem Balkan auch nicht irrationaler ist als anderswo. Im Gegenteil: Sie wird und wurde schon immer planvoll und effektiv eingesetzt – auch in den postjugoslawischen Kriegen der Neunzigerjahre.

Für Mark Mazower ist der Balkan somit nicht etwa Europas dunkler Hinterhof, sondern eine Ausprägung der Gesamtgeschichte dieses Kontinents. Damit gelingt dem Autor ein historisch-analytischer Zugriff, der den Balkan weder verteufelt noch – wie ebenfalls häufig üblich – romantisiert. HEIKO HÄNSEL

Mark Mazower: „Der Balkan“. Aus dem Englischen von Elvira Willems. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2002, 270 Seiten, 9,90 €