Chirac stolpert voran

Die Franzosen streiken gegen die Reform der Renten und des Schulsystems. Entgegen ihrer Gewohnheit tun sie dies übellaunig und zudem ohne Aussicht auf Erfolg

Auf die Eliten kann man in Frankreich nicht zählen, der Bürgeregoismus verhindert Reformen

Streikzeit ist Hoffnungszeit. Wenn man sich im Kollektiv bewegt, kommt Erwartung auf, auch wenn es nicht viel ist. Diesmal können die Franzosen aber gar nichts erwarten. Die gut gelaunten Streiks und Demonstrationen, die sie am letzten Wochenende begannen, laufen ins Leere. Sie richten sich diesmal allein gegen den Staat, und der ist zu schwach, um noch Zugeständnisse machen zu können. Im Gegenteil, er muss viele Versprechungen des vergangenen Jahres, des ersten Jahres der Regierung Raffarin, wieder zurücknehmen. Und noch einiges dazu.

Darauf haben sich die Franzosen eingestellt, und die Stimmung im Land gilt als verdrossen. Die Sparkonten wachsen an, zum Kummer des Finanzministers. Aber einmal mindestens im Jahr muss groß demonstriert werden, auch wenn nichts dabei herauskommt und die Staatseinnahmen noch ein wenig weiter sinken. Mindestens einmal im Jahr feiert sich das republikanische Volk selbst, auch ohne konkrete Ziele. Dass dabei gelegentlich eine Regierung hopsgeht, ist einkalkuliert.

Diesmal wird für oder gegen vielerlei gemeinsam demonstriert. Es geht nur am Rande um Lohn- oder Gebührentarife, die Arbeitnehmer der Privatwirtschaft haben nichts zu erstreiken. Nicht wenige gehen trotzdem auf die Straße, aus Solidarität. Und weil sie ahnen, dass im Herbst die sozialen Konflikte dieselben sein werden.

Die zwei zentralen Themen diesmal: die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und damit die Erhöhung des Rentenalters zum einen, die Dezentralisierung der staatlichen Schulorganisation zum anderen. Lehrer und Rentner treten daher besonders zahlreich auf. Das Rentnervolk der Franzosen hat überhaupt kein Verständnis dafür, dass in Zukunft für die Rente vierzig Jahre lang geklebt werden soll, vielleicht gar zweiundvierzig. Sieben- bis achtunddreißig Jahre waren bisher das höchste, was es sich zumuten ließ. Dazu kommen Sonderrechte für viele Berufsgruppen, zum Beispiel die legendären Lokomotivführer, die schon mit fünfzig aufhören. Auch die Mehrzahl der Lehrer kommt nicht bis zum Ende der gesetzlichen Lebensarbeitzeit und geht schon mit fünfundfünfzig in Pension. Ausgebrannt, arbeitsunfähig, frühverrentet mit vollen Bezügen. Also ähnlich wie in Deutschland. Die ältere Generation der Erzieher schafft die jüngere nicht mehr, sie sieht sich in ihren Berufsidealen enttäuscht, auch von den Eltern nicht unterstützt, ja mit Absicht missverstanden. Wenn die Sozialaufsteiger in Frankreich, vor allem aus der bildungsstolzen Arbeiterklasse, einst die republikanische Schule hochhielten und wenn Gewerkschafter dort ihr gutes Französisch lernen konnten, so ist davon kaum mehr etwas vorzufinden. Die Lehrer werden von den karrierebeflissenen Eltern ständig mit Ansprüchen auf gute Abschlussnoten geplagt, ernten aber wenig Dank.

Die Gewerkschaften des fast immer schlecht gelaunten Lehrervolks sehen sich aber nach wie vor als hervorragende Kämpfer für republikanische Egalität. Diese sehen sie jetzt durch die Dezentralisierung der öffentlichen Dienste bedroht. Das Schulsystem, so der Plan der Regierung, soll endlich aus der starren Bürokratenhand der Pariser Zentralregierung gerissen werden. Die Regionalregierungen und die Départements sollen die Aufsicht über ihren Bereich erhalten – wie bei vielen anderen Einrichtungen des Dienstes auch. 100.000 Beschäftigte des pädagogischen Hilfspersonals, etwa die Schulpädagogen und die mittleren Aufsichtskräfte, würden den Regionen unterstellt. Diese könnten hier ihren Egoismus ausleben, mit dem Resultat, dass sich die Reicheren gute Schulen leisten könnten, die Ärmeren nur schlechte. Die Einheit des Bildungssystems wäre erschüttert.

An dem Verdacht ist etwas dran. Die schon vor zwei Jahrzehnten begonnene Dezentralisierung hat nicht nur Erfreuliches gebracht. Die Gemeindebürgermeister haben allzu häufig mit Prestigebauten ihren Ehrgeiz befriedigt, die Regionalparlamente sind heute leichter der Bestechung durch Wirtschaftsinteressen ausgesetzt als zu der Zeit, da noch der Präfekt und mit ihm die Pariser Zentrale den Anbau für die Mensa genehmigen mussten. Trotzdem, die Regionalisierung war unvermeidbar.

Der Minister für die nationale Erziehung, der brillante Philosophieprofessor Luc Ferry, hatte einen neuen Bildungsgeist in die Schule und das Bildungspersonal tragen wollen. Schon nach einem Jahr ist er am Ende. Er bekommt gar den Vorwurf zu hören, mitschuldig am Ruin eines der höchsten Bildungsgüter der Nation zu sein: Dem Lehrerstreik droht nämlich die Abhaltung des Zentralabiturs zum Opfer zu fallen. Die Lehrer verhalten sich verantwortungslos gegenüber den Schülern, vermutlich muss der Minister dafür büßen.

Wie in anderen Ländern auch, ist die Schulmisere eine Dauermisere, die von Regierung zu Regierung geschoben wird. Auf die Eliten kann man in Frankreich nicht zählen, der Bürgeregoismus verhindert jede Reform. Und die Franzosen fühlen sich schlechthin den Anstrengungen von Reformen nicht gewachsen. Das entfernt sie aufs Neue vom Staat, der in allen großen Institutionen von einer einzigen Partei beherrscht werden muss, von der Partei Jaques Chiracs. Er kann zwar von Glück sagen, dass der Opposition der vor einem Jahr eher aus Zufall als aus eigener Schuld abgewählten Linken, zur Sozialreform auch kaum anderes einfällt wie der Regierung. Das ist in Frankreich wie fast überall in Europa: die Regierungen, die keine Alternativen in der politischen Klasse finden, müssen allein gegen das Volk regieren. Das Volk aber bleibt mürrisch und stumm, es lässt sich kaum zu einer eigenen Verantwortlichkeit politisieren – was dann auch die Parteien erlahmen lässt. Die Sozialistische Partei in Frankreich ist nur noch ein Schatten, wo sie noch vor fünf Jahren zu den fleißigsten in Europa zählte. Aber auch sie ließ die längst fällige Rentenreform schleifen. Sie wusste, dass man den Franzosen nicht beibringen kann, unter den heutigen demografischen Bedingungen mehr Arbeit ins verlängerte Leben zu investieren. Im Gegenteil, sie verstärkte die Illusion, dass sie mit noch weniger Arbeit auskommen. Diese Lehre wurde nämlich aus der 35-Stunden-Woche gezogen, die von der Regierung Jospin mit großer Mühe, aber ganz anderem Ziel durchgesetzt worden ist: Sie sollte in der Verwaltung wie in den großen Industriebetrieben durch die Erzwingung von Rationalisierungsprogrammen neue Arbeitsplätze schaffen. Das ist nur beschränkt gelungen. Fatalerweise förderte man damit auch die vorzeitigen Verrentungen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Mindestens einmal im Jahr feiert sich das republikanische Volk selbst, auch ohne konkrete Ziele

Präsident Chirac hat über eine Sozialreform schon eine Regierung verloren, im Jahre 97. Der Volkszorn fegte sie hinweg. Das kann sich der Präsident nicht noch einmal leisten. Er wird die Reform auf Biegen und Brechen durchsetzen, doch es wird eine halbe Reform bleiben und deshalb keinen Erfolg haben. Stolpern wird seine einzige Bewegungsform bleiben.

CLAUS KOCH