Osten soll Zone werden

Die Ostförderung muss neu justiert werden, fordert eine Regierungskommission. Sie denkt an regionale Deregulierung

AUS BERLIN ANDREAS SPANNBAUER
UND DANIEL SCHULZ

Die Leichenhalle des 1.000-Einwohner-Ortes Crostau nördlich von Dresden reicht für ein Dutzend Hinterbliebene und einen Sarg. Vor zehn Jahren sollte daher eine gigantische Totenhalle errichtet werden – mit beachtlichen Fördermitteln. Und weil es in der Gemeinde nur etwa ein Dutzend Begräbnisse im Jahr gab, sollte auch noch eine Art Zentralfriedhof für die sächsische Landeshauptstadt entstehen. Das Regierungspräsidium Dresden genehmigte den Antrag prompt – erst als der Crostauer Pfarrer eingriff, wurde das Projekt gestoppt.

Zehn Jahre später ist nun eine Diskussion über den Aufbau Ost entbrannt, für den das Beispiel Crostau beispielhaft ist. Eine 15-köpfige Kommission hat im Auftrag der Regierung die Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland untersucht. Sie erklärt die Förderpolitik Ost weitgehend für gescheitert – und dies habe fatale Folgen für den Rest des Landes. „Der Aufbau Ost“, so warnt der Vorsitzende der Kommission, Klaus von Dohnanyi (SPD), „ist zu wenigstens zwei Dritteln für die Wachstumsschwäche Deutschlands verantwortlich.“ Die hohen Transfers lähmten den Aufschwung im Westen. „Wenn wir das so weiter betreiben wie bisher, dann kann sich Deutschland nicht erholen.“ Die Bilanz der Kommission – offizieller Titel: „Gesprächskreis Ost“ – ist niederschmetternd. Ohne Kurswechsel, so zitiert der Spiegel aus dem Dohnanyi-Papier, werde „der Ost-West-Transferbedarf vermutlich sogar noch ansteigen“. Für die Einheit bezahlt der Westen jährlich vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. Insgesamt lag der Nettotransfer öffentlicher Gelder bis 2002 bei etwa 850 Milliarden Euro. „Niemals in der Geschichte der Industrieländer“, so schätzt der Ökonom Hans-Werner Sinn, habe es „ein Land oder einen Landesteil gegeben, der in ähnlich großem prozentualen Umfang von einem Ressourcenstrom aus anderen Regionen abhängig war.“

Vor allem aber ist ein nicht geringer Teil der Transfers bisher wirkungslos versickert. Heute wächst die ostdeutsche Wirtschaft sogar langsamer als die im Westen, eine Besserung ist nicht in Sicht. Den Grund dafür sehen Ökonomen darin, dass viele Fördergelder in die falsche Richtung geflossen sind – nämlich in die konsumtive statt die produktive Infrastruktur. Ab dem 1. Mai verschärfen sich die Probleme noch einmal. Mit der EU-Erweiterung konkurriert Ostdeutschland mit den Niedriglohnländern aus Osteuropa.

Um das Schlimmste zu verhindern, soll nun die Wirtschaftsförderung neu ausgerichtet werden. „Wir müssen neu justieren“, deutete der zuständige Minister Manfred Stolpe (SPD) Anfang der Woche einen Kurswechsel an. Ein Sprecher ergänzte, Stolpe finde die Idee von Sonderwirtschaftszonen im Osten „interessant“. Vier Arbeitsgruppen sollen ab Mai über die Einrichtung dieser Sonderwirtschaftszonen und die übrigen Vorschläge der Dohnanyi-Kommission diskutieren. Diese fordert unter anderem Lohnkostenzuschüsse im Niedriglohnsektor, die Konzentration der Förderung auf wenige Wachstumskerne und Steuererleichterungen für Unternehmen; hinzu kommt die Deregulierung des Bau-, Umwelt- und Arbeitsrechts. Letzteres halten viele Ökonomen für unausweichlich. So tritt das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) für flexiblere Arbeitszeiten, Kürzung von Überstundenzuschlägen und Urlaubsgeld sowie eine Lockerung des Kündigungsschutzes ein. „Wir brauchen auf jeden Fall ein liberalisiertes Arbeits-, Umwelt- und Genehmigungsrecht“, verlangt auch der sächsische Wirtschaftsminister Martin Gillo (CDU) gegenüber der taz.

Die SPD lehnt Eingriffe in das Arbeits- und Tarifrecht dagegen ab. Harald Ringstorff, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, warnt bereits vor einem „Wettlauf um die niedrigsten Standards für Arbeitnehmer“. Auch Peter Hettlich, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Ost der Grünen, hält Sonderwirtschaftszonen für eine „Schnapsidee“. Der taz sagte Hettlich: „Die Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose können nicht noch niedriger geschraubt werden.“ Auch hätten sich die Strukturprobleme in Westdeutschland schon seit den 70er-Jahren abgezeichnet. Vorerst will die Regierung die Fördermittel gezielter vergeben. Thüringens SPD-Chef Christoph Matschie hält eine Konzentration auf Wachstumskerne für unumgänglich. Von Dohnanyi regt an, dass die Länder künftig nicht mehr selbst über die Verwendung der Mittel entscheiden dürfen.

Ein Pilotprojekt für die neue Zonenregelung läuft gerade an. Zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung prüft Wirtschaftsminister Wolfgang Clement derzeit die Möglichkeit, innovationsfreudigen Regionen auf fünf Jahre befristete Abweichungen von gesetzlichen Regelungen zu gestatten; Ende des Jahres soll ein Gesetzentwurf vorliegen. Dabei geht es um die Straffung von Verwaltungsabläufen, das Tarif- und Arbeitsrecht soll nicht angetastet werden. Allerdings setze sich die SPD für eine „Dezentralisierung von kollektiven Regelungen“ ein, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Volker Kröning der taz. „Wir schließen auf branchen- und regionalspezifischer Ebene eine Flexibilisierung nicht aus.“

Allein dass die Diskussion nun geführt werde, freut sich der Sachse Gillo, sei „ganz toll“. Mit dem Begriff Sonderwirtschaftszone hat er aber noch Probleme: „Zone hat im Osten immer so einen seltsamen Beigeschmack.“