Ein Quantum Hering

Essen am Heiligabend: Das kleine Mahl vor der großen Völlerei ist schlicht, doch nicht simpel

VON TILL EHRLICH

Das Heiligabendessen erzeugt eine seltsame Spannung, es erinnert an die letzte Stunde vor dem Anpfiff eines Endspiels. Man spürt ein Kribbeln, eine unbestimmte Erregung, vielleicht auch Ohnmacht; man weiß nicht, wie es ausgeht. Wird es ein Fest oder ein Drama?

Meist findet das Essen am späten Nachmittag statt, wenn die Herumrennerei vorbei ist und man sich im Familienkreis oder – konfliktärmer – mit Freunden versammelt. Es ist oft das stimmigste, weil alles noch vor einem liegt: die Bescherung, der Stress des Nichtstuns, die (Un-)Möglichkeit guter Gespräche, die Chöre, die Braten, die allgegenwärtige Süße wie der bittere Nachgeschmack.

Der 24. Dezember ist ein normaler Werktag, er fiel früher noch in die vorweihnachtliche Fastenzeit, die erst mit der Christmette in der Heiligen Nacht endete. Daher ist das Abendessen ein Vorspiel und bis heute eine Art Fastenspeise geblieben, ob man nun Kartoffelsalat oder Karpfen blau bevorzugt. Entscheidend ist, etwas aufzutischen, was man gut vorbereiten kann, mit einer gewissen Routine, denn der Heilige Abend ist nicht der Tag für kulinarische Experimente, die den erhofften Familienfrieden gefährden könnten. Kurz: Gefragt ist ein Essen, das weniger ambitioniert ist und dennoch nicht vernachlässigt, dass Liebe durch den Magen geht.

Die Schlichtheit dieses Essens kann man genießen. Früher war sie wohl eher eine Pein, die Fastenden waren nach strengen fünf Wochen Enthaltsamkeit physisch geschwächt. Somit war die Vorfreude auf das große Fressen schon da, man aß Heringssalat und war gedanklich bereits bei der üppigen Gans. Noch hielt man sich zurück, bevor das große Fressen lustvoll beginnen konnte. Essen und Backwerk mussten gehaltvoll und schwer sein, weil Fett nicht nur Energie bedeutet, sondern auch den Geschmack verstärkt, auf den man in der Fastenzeit und im Alltag verzichtet hatte. Für wenige Tage würde nun der Alltag aufgehoben sein. Man feierte die Befreiung vom Joch der Arbeit, und die Festtage waren wohl ein Vorgeschmack auf das Paradies. Die opulente Weihnachtsesserei ist eine heidnische Tradition, die das Christentum ab dem vierten Jahrhundert eher unwillig adaptierte, da man weniger Wert auf die Geburt des Erlösers legte als auf sein Leiden und Sterben.

Das alles schwingt mit, wenn man sich am 24. zum schlichten Mahl trifft. Wer heute Heringssalat isst, bewegt sich unbewusst in katholischen Bahnen, Fisch ist die katholische Fastenspeise schlechthin. Beim Fasten ist Fleisch verboten und Fisch erlaubt, denn er ist kein Warmblüter und ein kaltes Wesen. Der feuchtfrische Fisch hat die Form eines Auges, das auch für das Gottesauge und den Heiligen Geist steht.

Karpfen wurde seit dem Mittelalter in Teichen gehalten, war als Fastenfisch obligat, doch nicht immer ist er edel. Am wohlsten fühlt er sich im Schlamm, was meist modrig schmeckt. Heiligabendkarpfen ist auch aus der Mode gekommen, weil Meeresfische und Grätenfreiheit populär wurden und man heute bei uns zum Glück keinen Speisegeboten mehr unterliegt. Trotzdem kann man aus den vergessenen Süßwasserfischen Schmackhaftes kochen, zudem sind sie meist regional verfügbar, was positiv in der Klimabilanz erscheint. Karpfen blau mit Wurzelgemüse und Salzkartoffeln kann puristisch-zart schmecken und perfekt zum Weihnachtsabend passen, wenn man etwas Übung und keine Angst vor den Gräten hat. Entscheidend ist die Qualität des Karpfens, der aus einer Biozucht kommen und lange genug in frischem Wasser gehalten sein sollte – dann schmeckt er nicht schlammig.

Eine Alternative sind Forelle oder Waller blau, doch das funktioniert nur mit Fischen, deren Schleimhaut nicht verletzt wurde. Sie gerinnt blau im Sud, der neben Gewürzen, Gemüse, Zitronen- und Limettenstücken reichlich Essig enthalten sollte. Dieser verstärkt die Blaufärbung der Fischhaut und bewirkt, dass das Filet schön weiß bleibt. Das behutsame Garen gelingt am Besten, wenn der Sud knapp unter dem Siedepunkt gehalten wird. Der Sud sollte sehr kräftig gewürzt und gesalzen werden, sonst schmeckt das Fischfilet fad. Karpfen in polnischer oder Heiligabendsoße mit Mohnknödeln ist der östliche Klassiker schlechthin; eine gehaltvolle Fischspeise mit weihnachtlichen Gewürzen. Hier wird grob zerstückelter Karpfen in würzigem Fischfond gedünstet, der süßsäuerlich abgeschmeckt und mit Zitronensaft, Mandeln oder Rosinen verfeinert werden kann. Je nach Region wird der Sud mit Lebkuchen- oder Schwarzbrotbröseln gebunden.

Der spartanische Kartoffelsalat bedeutet Lob der Kargheit und Konzentration auf das Wesentliche. Er soll herzhaft, appetitanregend und sättigend sein, ohne als Sattmacher aufzutreten. Hier gibt es die Vorliebe, den Simpel aufzupeppen, indem der rituelle Fleischverzicht umgangen wird. Die Zugabe von ausgelassenem Speck oder Gänsefett und Fleischbrühe sind Versuche, das Schlichte durch feine Kniffe in geschmackvollere Sphären zu heben. Man kann den schlichten Salat aber auch mit einem Quantum gehacktem Hering, säuerlichem Apfel oder Rosinen in Schwung bringen. Wichtiger als die verfeinernde Komponente ist die Balance, die sich aus der Konsistenz der gekochten Kartoffeln und der Saftigkeit ergibt. Die schlichte Kartoffel wird mit einem Film aus Öl und Feuchtigkeit umhüllt. Dazu kommt das Spiel von Süß, Sauer und Salzig. Bekanntlich sind gekochte Kartoffeln wie Schwämme, die bis zu ihrer inneren Sättigung sämtliche Würzmittel und Flüssigkeiten aufsaugen, was dazu führt, dass der perfekte Moment von ausbalancierter Würze und Konsistenz selten anzutreffen ist. Oft ist Kartoffelsalat zu trocken oder zu suppig, schmeckt lasch oder süß. Ob man zum Kartoffelsalat nun heiße Würstchen oder Schäufele isst, erscheint eher als Nebensache. Die ewige Wiederkehr des Kartoffelsalats an Heiligabend fordert zu immer sensibleren Lösungen heraus. Es ist wie beim Sex: Man macht scheinbar immer das Gleiche und fühlt es immer anders.

Raclette oder Käsefondue sind interessante Alternativen zu Fisch oder Salat. Nicht nur weil sie den Fleischverzicht sublim weitertragen, auch weil sie zu interaktiver Performance einladen und gerade in größerer Gesellschaft Spaß machen. Insbesondere die Fonduevorbereitung ist ein beruhigendes Ritual. Man schmilzt den grob gehobelten Käse im Caquelon, rührt mit meditativer permanenter Aufmerksamkeit, bis alles sämig ist. Fondue ist ein Winteressen bäuerlichen Ursprungs, erfordert minimalen Vorbereitungsaufwand und Gefühl beim Schmelzen. Die Qualität steht und fällt mit der Güte und Reife des Käses. Geschmacksbestimmend ist neben dem Weißwein, der schlicht sein darf, der Anteil reifer und aromatischer Käsesorten wie Appenzeller oder Greyerzer. Das Schöne am Käsefondue oder Raclette ist, dass es langsam anfängt und mit der Zeit intensiver wird. Es wäre schön, wenn man das auch vom ganzen Weihnachtsfest sagen könnte. Noch liegt es vor uns.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert die taz-Sättigungsbeilage