Den Leithammel schlachten

Die Familie als Hort der Lügen: Stephan Kimmig will in seiner Inszenierung von „Das Fest“ am Thalia Theater die gängige, aber trotzdem verkehrte Vorstellung vom Familienglück entlarven

Interview: LIV HEIDBÜCHEL

Ambivalentes Gefühlsleben, gesellschaftlicher Zwang, Auseinandersetzung mit Lebenslügen: Das sind die Themen, die Regisseur Stephan Kimmig schon bei Henrik Ibsens Nora zu Beginn der Spielzeit auslotete. Mit dieser umjubelten Inszenierung am Thalia Theater ist er gerade beim Berliner Theatertreffen gefeiert worden.

Jetzt bringt Stephan Kimmig Das Fest von Thomas Vinterberg auf die Bühne des Thalia Theaters. Der dänische Dogma-Film von 1998 erzählt von einem Abend der Abrechnung: Es ist der 60. Geburtstag des charismatischen Vaters, die Familie und Freunde kommen zusammen. Der älteste Sohn lässt bei seiner Festrede die Bombe platzen und klagt den Vater des Missbrauchs an ihm und seiner Zwillingsschwester an. Die Welt gerät öffentlich aus den Fugen.

taz hamburg: Wie groß ist der Druck beim Inszenieren eines derart bekannten Films wie Das Fest?

Stephan Kimmig: Nicht besonders. Denn es gibt ein Skript zum Film, das ist hervorragend. Wenn man das liest, denkt man nicht mehr an den Film, weil das Stück so stark ist. Der Film hat ja auch viele Fehler. Viele Charaktere sind viel zu kurz gezeichnet, zu wenig kontrovers. Das sind fast Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Der Film steuert sehr auf das Vorhersehbare ab und zieht das gnadenlos durch.

Worum geht es Ihnen denn?

Mich interessiert diese Unterdrückung, dieses Zerstörungspotenzial „Familie“. Das ist nicht nur in den bürgerlichen, sondern in allen Familien so, immer überdeckt durch ein strahlendes Äußeres. Doch dieses Familienglück gibt es nicht. Gerade wenn man sich mal die rechten Parteien anguckt, die die Familie als Hort darstellen, finde ich es wichtig zu zeigen: Die gesamte gesellschaftliche Katastrophe entsteht in den Familien. Die Familie ist ein Hort der Unterdrückung und Rumlügerei. Es ist wichtig, sich damit zu beschäftigen und nach den großen Lügen zu fragen.

Wollen Sie die Zuschauer von Ihren Hollywood-Phantasien läutern und darauf hinweisen, dass alle Leichen im Keller haben?

Nein, das nicht. Aber ich will zeigen, dass man sich kontroverser auseinander setzen kann mit diesen Bildern, die wir alle im Kopf haben. Diese Sehnsucht nach Ruhe und Harmonie hat jeder. Aber man darf sich nicht zu viel Ruß in die Augen, in die Ohren, in die Sinne hineinstreuen. Man muss genauer und ambivalenter gucken lernen. Die alten Muster und Bilder vom Idyll „Familie“ und „Beziehung“ funktionieren nicht mehr. Mir geht es um die Frage, wer der Leithammel in einer Familie ist und was die Richtschnur.

Beim Fest ist der Vater der große Bestimmer. Welche Rolle spielt das Thema Missbrauch in Ihrer Inszenierung?

Das Spannende an dem Stück ist für mich, dass es weit über den Missbrauch hinausreicht. Ich fände es zu dürftig, das nur als „shocking moment“ auf die Bühne zu bringen. Hier geht es um den Kampf in der Familie. Der Vater sagt am Schluss: „Gut gekämpft, Christian!“ Es ist der Kampf darum, wer Recht hat und nach welchen Richtlinien gedacht und gefühlt wird. Dieser gesellschaftliche Kampf beginnt in der Familie. Das Althergebrachte und das Neue stoßen aufeinander. Und an diesem Abend kann man exemplarisch miterleben, was das für Geburtswehen sind.

Ist Das Fest ein Initiationsritus?

Interessant ist schon, dass es so ein festlicher Rahmen ist, der ja sonst immer von Konventionen geprägt ist, von absoluter Lüge. Also, was bei diesen Hochzeiten und Geburtstagsfesten gesülzt wird, ist so unwahr und das weiß auch jeder. Aber diese riesigen Lügen braucht man offensichtlich auch. Und es ist interessant, dass das jetzt in diesem großen Rahmen explodiert. Das ist schon ein großer Reinigungsakt für die Familie.

Premiere: Sa, 31.5., 20 Uhr, Thalia