Kritik an Einsatz in Erfurter Schule

Kommission enthüllt fehlerhafte Polizeitaktik bei Massaker vor zwei Jahren. Opfer waren dennoch nicht zu retten. Justizminister spricht von „beunruhigenden Erkenntnissen“ und neuen Ermittlungen wegen eines möglichen Mitwissers

AUS ERFURT MICHAEL BARTSCH

Die 16 Todesopfer am Erfurter Gutenberg-Gymnasium wären auch bei einem besser koordinierten Polizeieinsatz nicht mehr am Leben. Zu diesem Ergebnis kommt der Abschlussbericht einer Untersuchungskommission, der gestern in Erfurt vorgestellt wurde. Thüringens Justizminister Karl-Heinz Gasser hatte das aus Richtern und Staatsanwälten bestehende Gremium Anfang dieses Jahres eingesetzt. Durch ein Buch der Autorin Ines Geipel und vier Anzeigen von Angehörigen waren die Vorgänge vom 26.April 2002 erneut ins Zwielicht geraten.

Robert Steinhäuser, ehemaliger Schüler des Gymnasiums, hatte innerhalb weniger Minuten 13 Lehrer, zwei Schüler und einen Polizisten getötet. Eine genaue Rekonstruktion der zeitlichen und örtlichen Abläufe lässt nach dem Bericht nur den Schluss zu, dass Steinhäuser dabei tatsächlich alleine handelte. Justizminister Gasser sagte, anders lautende Beschreibungen einzelner Zeugen beruhten auf „Wahrnehmungsverzerrungen“, Fantasie oder nachträglichen Gesprächen.

Die Verletzungen hätten bis auf zwei umstrittene Fälle sofort zum Tod geführt. Rechtsmediziner sagten aus, dass auch der Lehrer Hans Lippe, der erst nach fast zwei Stunden im Treppenhaus verblutete, keine Überlebenschance gehabt hätte. Eine falsche Todeszeit auf dem Totenschein sei auf ein Missverständnis zurückzuführen. Gasser betonte, ärztliche Einsätze seien grundsätzlich nur in gesicherten Bereichen möglich.

Hier übt die Kommission teilweise Kritik. Als die Polizei acht Minuten nach dem ersten Schuss am Tatort eintraf, sei die Lage zwar unübersichtlich gewesen, Gerüchte über einen zweiten Täter hätten den Einsatz kompliziert. Als nachteilig habe sich aber erwiesen, dass in Thüringen abweichend von den meisten Bundesländern der Polizeiführer vor Ort und nicht bei seinem Führungsstab eingesetzt ist. Das Eingeständnis mangelhafter Kommunikation verweist auch auf ein generelles Defizit der deutschen Polizei, das Fehlen eines Digitalfunks. Der Funkkanal sei „völlig überlastet“ gewesen.

Eine Dienstvorschrift, die das Warten auf das Eintreffen des Sondereinsatzkommandos (SEK) vorschreibt, ist inzwischen bundesweit geändert worden. Auch der Schutzpolizist muss bei vergleichbaren Amokläufen jetzt eingreifen.

Der Kommissionsbericht hält außerdem das Verhalten von Steinhäusers Schützenverein und die Erteilung der Waffenbe-sitzkarte durch das Erfurter Ordnungsamt für „problematisch“. Eintragungen im Schießbuch wurden offensichtlich gefälscht.

Zu neuen Ermittlungen wegen eines möglichen Mitwissers der langfristig vorbereiteten Bluttat sagte der Justizminister nur kryptisch, es gebe dazu „beunruhigende Erkenntnisse“. Das Kommissionsmitglied Peter Wickler, Vizepräsident des Landesarbeitsgerichtes, bestätigte den Eingang eines Warnanrufs im Schulsekretariat zwei Tage zuvor. Wegen der Häufigkeit solcher Anrufe in Prüfungszeiten sei er aber nicht beachtet worden.

Den Schulverweis, der ein halbes Jahr vor der Tat gegen den schwierigen Schüler Robert Steinhäuser ausgesprochen wurde, hält die Kommission weder formell noch materiellrechtlich für begründet. Persönlichkeitsanalysen des Bundes- und Landeskriminalamtes hätten aber ergeben, dass dieser Verweis nicht alleiniger Auslöser des Massakers gewesen sei.

Der Erfurter Anwalt Eric Langer, Lebensgefährte einer erschossenen Lehrerin und Vertreter anderer Hinterbliebener, sieht weiteren Aufklärungsbe-darf. Die Kommission sei nicht auf seinen 120-seitigen Fragenkatalog eingegangen.