beim zahnarzt oder: ich will nach hause von FANNY MÜLLER
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Es gibt eine Menge Dinge, die ich überhaupt nicht leiden, aber dummerweise nicht vermeiden kann, wie beispielsweise einen Besuch bei meinem Zahnarzt. Der ist Anthroposoph und Eklektiker und glaubt mich mit ausführlichen Beschreibungen über das Wirken und Weben von Kristallen und Halbedelsteinen und deren Strahlungsenergien unterhalten zu müssen.

Ich habe dann gerade eine scheußlich schmeckende rosa Masse mit widerlich süßem Erdbeergeschmack im Mund und kann zum Glück nichts dazu sagen. Meistens gebe ich dann pantomimisch vor, dass ich mächtig interessiert sei an den neuesten Ausgaben der Frauenzeitschriften, die seine Assistentin mir in den Schoß legt.

Aber nach der Lektüre nur eines einzigen dieser Machwerke umwabert mich eine eigenartige Dumpf- und Blödheitswolke, und ich gewinne den Eindruck, mein Kopf sei eine Scheibe. Das Jahreshoroskop für 2004! Die neuen Sommerfarben! Das soll dann alles gewesen sein? Nein. Es fehlen noch die aktuelle Diätformel, Szenetreff Gardasee und 66 Haartricks. Ganz zu schweigen von „Hosenanzügen für jede Figur“. Dabei weiß doch jeder, dass die Evolution Figuren für Hosenanzüge gar nicht vorgesehen hat.

Hat uns das Leben hienieden wirklich und wahrhaftig nichts anderes zu bieten? Offenbar nicht. Ich möchte tot sein! Oder wenigstens möchte ich nach Hause!

Ich möchte auch immer nach Hause, wenn ich eigentlich Lesungen zu absolvieren habe. Kürzlich war ich wieder unterwegs in meiner alten Heimat und Tante Lotti wollte nicht kommen, weil Onkel Edgar vor einem halben Jahr „an Prostata“ gestorben ist. Sie kam aber doch, und ich musste ad hoc alle Stellen aus meinen Geschichten rausnehmen, wo von Krebs die Rede ist.

Aber zu Hause ist es auch nicht besser. Kürzlich habe ich bei der Sprinkenhof AG angerufen; ich wollte mir in einem renovierten Haus auf St. Pauli eine Wohnung ansehen. Und dies war das Gespräch: „Hallo, ich möchte mich für die Wohnungen in der Clemens-Schultz-Straße bewerben.“ – „Ja, das geht nicht. Ich höre schon, Sie sind deutsch. dann haben Sie keine Chance. Wenn Sie nun türkisch oder afrikanisch wären, dann wäre das alles kein Problem, aber so …“ – „Wie … ich kann als Deutsche keine Wohnung über Ihre Wohnungsgesellschaft bekommen? Das ist ja Diskriminierung im eigenen Land! Das ist ja, da muss ich ja …“ – „Ja, so ist das nun mal, selbst mit einem Dringlichkeitsschein hätten Sie kaum eine Chance. Es sei denn, Sie wären schwanger und arbeitslos und mit einem Asylanten verlobt, aber so geht das nicht.“ – „Herzlichen Dank, aber das sind Bedingungen, die ich vorläufig nicht zu erfüllen gedenke. Auf Wiederhören!“

Ich erzähle die Geschichte meiner Nachbarin Andrea, die zunächst ins Grübeln kommt, aber dann muntert sie mich auf: „Ich weiß gar nicht, warum du so verzweifelt bist. Sind wir denn nicht alle irgendwie Asylanten? Auf dieser Welt? Und auch irgendwie verlobt und arbeitslos?“ Wo sie Recht hat, hat sie Recht.

Aber solange noch Schilder an Gerüsten hängen, auf denen steht: „Hier wird gestrichen – auf eigene Gefahr – der Maler“, so lange ist das Leben doch noch lebenswert.