„Das Bedürfnis nach dem Hier und Jetzt“

Short Cuts in einer österreichischen Kleinstadt: Durch Barbara Alberts Spielfilm „Böse Zellen“ bewegt sich ein gutes Dutzend Protagonisten, verwoben in ein Netz aus Tod und Zufall. Ein Gespräch mit der Regisseurin über Realismus, fremdbestimmte Figuren und den Hang, ins Dunkel vorzudringen

INTERVIEW MANFRED HERMES

taz: Frau Albert, gibt es derzeit eine österreichische Welle im Film?

Barbara Albert: Es ist schwer, das zu beurteilen. Grundsätzlich fühle ich mich sehr wohl, Filme in Österreich zu machen, eigentlich schon seit „Nordrand“. „Nordrand“ ist in einer Zeit entstanden, als bei uns der extremste rechte Wahlkampf gegen Ausländer geführt wurde. Das hat zu einer großen Solidarisierung geführt, auch wenn ich jetzt nicht behaupten will, dass die politische Situation der Grund dafür ist, dass die Filme so sind, wie sie sind.

Einige dieser Filme wirken fast wie Antithesen zu deutschen, etwa in der Art, wie soziale Realität dargestellt wird.

Es gibt bei uns ein irrsinniges Bedürfnis nach dem Hier und Jetzt. Ich bin oft überrascht, wie sehr man ein Publikum mit der Darstellung eigentlich harmloser Realitäten schockieren kann. Unsere Sehgewohnheiten lassen uns glauben, dass die Realität anders ist, als sie in Wirklichkeit ist. Wir sind nicht mehr gewohnt, uns Realität anzuschauen.

Sehr beiläufig behandeln Sie das Thema Migration.

Die Öffnung des Eisernen Vorgangs war in Wien Anfang der Neunziger extrem zu spüren. Es gibt die besondere Nähe zum Balkan, das Thema ist hier schon geschichtlich vorgeprägt.

Haben Sie für Ihren Realismus filmische Vorbilder?

Es gibt keine Tradition, in der ich mich völlig heimisch fühle, außer vielleicht im sozialen Fernsehfilm der 70er-Jahre, mit dem ich groß geworden bin. Natürlich gibt es Filme, die ich mag, die ähnlich wie meine erzählt sind. „Happiness“ von Todd Solondz oder auch „Short Cuts“.

Wie Solondz verankern Sie Konflikte und Grausamkeiten in familiären Strukturen.

Es geht bei mir um Beziehungen: Die Menschen sind einsam, und sie versuchen, das zu überwinden. Man kommt zusammen und bildet eine Familie. Daraus ergeben sich neue Einsamkeiten und Verzweiflungen.

Gibt es zwischen den verschiedenen österreichischen Filmen Ähnlichkeiten – zum Beispiel ein pluralistisches, fragmentiertes Erzählen und den Hang zum größeren Gesellschaftsbild?

Es ist schon eine etwas neuere Art zu erzählen. Sie würden einen auf der Filmschule gern auf die linear erzählten Geschichten trimmen. Mein Drehbuchprofessor hat immer gesagt: „Frau Albert, warum verweigern Sie sich der Geschichte?“ Aber wir haben uns nie darum gekümmert, wie man ein Drehbuch schreiben darf. Da wir so ein kleines Land sind, gibt es weniger kommerziellen Druck. Wir wissen immer, dass wir zu wenig Publikum haben. Außerdem: Du bist vom Fernsehen null abhängig, die geben dir eh kein Geld. Da kannst du freier denken.

Sie haben in „Böse Zellen“ eine Reihe jugendlicher Figuren entwickelt, aber der Film wirkt sehr erwachsen. Warum gibt es diese Selbstermächtigungsexzesse nicht, die im deutschen Film so wichtig sind?

Ich weiß schon, dieses Supercoole. Das Laute fehlt in österreichischen Filmen, weil wir als Völkchen eher nicht so laut sind. Was ich spannend finde, ist, dass die Figuren oft so passiv sind, auch in meinen Filmen, wie fremdbestimmt, getrieben von den Umständen und Zwängen. Das ist, von meiner Erfahrung her, sehr österreichisch.

In Deutschland hat das Kino oft über Brüche und Abgrenzungen funktioniert. Kann es sein, dass das in Österreich eine geringere Rolle spielt?

Dafür hat es in Österreich immer zu wenige Filmemacher gegeben. Das zwingt zu einer produktiven Konkurrenz. Es gab nie so ein Ellbogending, wie ich es in Deutschland erlebt habe. Österreich ist ein kleines Land, man muss zusammenarbeiten, und das ist im Moment auch die große Qualität, dass wir Gruppen haben wie coop 99. Wahrscheinlich spielt auch der Zentralismus eine Rolle. Jeder kennt sich in Wien, das kann furchtbar sein, aber es gibt auch ständig Diskussionen über Drehbücher, Projekte, Schnittfassungen von anderen. Wir schotten uns nicht gegenseitig ab. Eine direkte gegenseitige Beeinflussung sehe ich aber nicht. Ein Drehbuch habe ich Haneke noch nie zu lesen gegeben.

Michael Hanekes bressonistischer Rigorismus wird in den neueren Filmen dadurch relativiert, dass …

… auf einmal so viele junge Frauen kommen.

Fünf, sechs junge Regisseurinnen einer Generation in einem so kleinen Land, das ist eine irrsinnige Quote.

In Deutschland gibt es das komischerweise gar nicht. Das ist fast die reine Jungspartie. Ich hätte auch nie gedacht, dass es in Österreich einmal fortschrittlicher wäre als woanders. Aber in dem Augenblick, in dem zwei Frauen da sind und sagen, wir machen Filme, entsteht sofort so was wie eine Selbstverständlichkeit.

Weil es eine andere Sensibilität gibt, werden Geschichten anders erzählt, es gibt eine Drehung, eine besondere Stimmung. Eine recht explizite Sexszene zeigt das gut.

Für mich ist diese Szene gar nicht so wertend. Ich war eher schockiert, als beim Filmfestival in Locarno junge Menschen auf mich zukamen und sagten: „Gott, wie schlimm!“. Es gibt da sicher Grenzüberschreitungen, vielleicht Demütigungen, aber Heini, die männliche Figur – das ist auch kein Bösewicht.

Es zieht sich eine breite Spur des Todes durch Ihren Film. Es gibt Flugzeugabstürze und Autounfälle. Was interessiert Sie an diesen scharf beobachteten, harten Konstellationen?

Ich wollte nicht schockieren. Ich wollte, dass „Böse Zellen“ fast hyperrealistisch ist, dass man wirklich etwas spürt. Für mich sind das Normalitäten. Wenn du dir überlegst, was so passiert – das ist ja oft nicht zu glauben, weil es so heftig ist. Jeder kennt jemanden, der bei einem Autounfall gestorben ist. Ein Film macht das alles in geballter Form, und in „Böse Zellen“ wird das noch gesteigert, weil es so viele Erzählstränge gibt.

Bedient das nicht auch das Nekrophilenklischee über Österreich?

Es kommt nicht von ungefähr, dass es bei uns eine so hohe Selbstmordrate gibt. Aber ich habe in letzter Zeit erst begonnen, ein bisschen zu verstehen, was das Dunkle in den Filmen ist und warum ich diesen Hang habe, ins Dunkel zu gehen. Ich fühle mich in Wien sehr wohl, weil ich spüre, da gibt es viel Wahnsinn, Vergangenheit, auch der Tod ist näher. Im Unterschied zu Deutschland wurden in Österreich viele Sachen lange nicht aufgearbeitet. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir in Österreich so sehr an Realismus interessiert sind.

Selbst die Kinder sind bei Ihnen in gesellschaftliche Strukturen eingebunden. Gibt es eine Paranoia vor dem Kitsch?

Ich glaube, dass ich sie als Figuren ernst nehme. Vielleicht gibt es auch die Angst vor der Betulichkeit und der falschen Sanftheit vor Kindern.

Sie haben eine starke Tendenz zur sozialen Empirie, aber es gibt auch eine religiöse oder spirituelle Dimension.

Diese ganze Geistebene hat für mich eine sehr lustvolle Seite, die mit der Faszination des Unbekannten zu tun hat, das einen ängstigt und überrumpelt. Was eine größere Lust bereitet, als in die Gesellschaft eingespannt zu sein.

Es bieten sich dadurch auch leichte Horrorfilmelemente an.

Ich mag Geisterfilme extrem gern. Ich wollte ganz hyperrealistisch arbeiten und dann noch fragen: Was ist eigentlich die Realität, und was empfinden wir als Realität? Diese Ängste, die ich zeige, existieren ja.

Viele Beziehungen sind gewalttätig, aussichtslos oder gehemmt. Und dann gibt es diese Augenblicke des kleinen Ausrastens und der emotionalen Ausflüchte – Spaß haben und Tanzen – gerade in der Schlussszene.

Das sind Fühler, die aus der Geschichte führen. Das Tanzen ist die Sehnsucht danach, sich lebendig zu fühlen. In der letzten Szene ist es anders. Das kleine Mädchen und die Borderlinerin, das sind Außenseiterfiguren, die eine Nische gefunden haben. Da wird eine Freiheit spürbar. Das ist für mich das Schöne an diesem Ende. Ich sage einfach nur: Das ist das Leben. Es ist, wie es ist. Es regnet. Da ist ein Mädchen im Regen, und das ist die Welt, und wir leben, und wir sterben, und da gibt es nichts weiter, und wir haben keine Antwort. Ich finde das sehr versöhnlich, aber auch brutal.