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: Die Codes der Urbanisten: drei Stellen unterm Leukoplast und andere Abzeichen

Wir hatten eigentlich vor, nie wieder über Berlin zu reden. Keine Geschichten mehr über Lo-Fi-Legenden mit Kohlenheizung, die sich nach tschechischen Jazzgrößen der Sechziger bennenen, keine Anekdoten über puppenspielende Secondhand-Kleinkunst im „Humana“-Style und schon gar keine Beschwörung der irre urbanen Atmosphäre, in der man so tolle Sachen erlebt wie nirgendwo sonst. Aber was bleibt uns anderes übrig? Es sind schließlich nicht nur alle wieder in der Stadt: das „Wunder von Neukölln“ und wie sie alle heißen.

Dazu erfreut sich Berlin interessanter Zuzüge, sogar aus dem schönen Boston. Und morgens beim Bäcker rennt man nicht mehr nur in die von ihren westdeutschen Erziehungsberechtigten begleiteten Langweiler mit Mitte-Frisur, Converse-Trainern, Adidas-Hosen und Oversized-Jackett aus dem Rotkreuzcontainer, sondern trifft auch nette Norwegerinnen mit einem BA vom Londoner Goldsmith’s College auf dem Weg ins Atelier – mit denen man prima über Risiken und Nebenwirkungen des Überlebens in New Cross und Umgegend fachsimpeln kann. Eine gute Gelegenheit also für einen historischen Rückblick: Wie wurde man, wer man ist? Und wie kamen wir über den Prenzlauer Berg? Und vor allem: Wird man sich je verändern oder immer derselbe sein? Die vorläufige Antwort lautet: Nein. Vielleicht werden wir es einmal bereuen – doch jetzt noch nicht!

Es muss vor ungefähr zehn Jahren gewesen sein, als die lokale Gemengelage etwas unklar war und keiner wusste, ob er das große Los gezogen oder den Fehler seines Lebens gemacht hatte. Ein Haufen ambitionierter, aber irgendwie auch aufgekratzter junger Leute aus dem wohl erzogenen Speckgürtel-Kontext hatte sich ins Ungewisse aufgemacht und spielte in Berlin Diskurspolizei: Wer ihnen begegnete und aus Versehen auch mal sein Geld bei der Leipziger Lokalpresse verdiente, hieß schnell „Faschist“. Andererseits machten andernorts zu kurz Gekommene als Praktiker einer handfesten Semiotik des Alltags auch nicht gerade halblang: Ob sich der arme Mensch, der sich ohne einen blassen Schimmer von den Bekleidungscodes des Düsseldorfer Kunststudenten-Postrock-Milieus 1997 einen Pullunder anzog, inzwischen von seinem Schock erholt hat? Hoffentlich. Es soll nicht wieder vorkommen.

Doch auch beim besten Willen passieren gewieften Lesern von Micro-Codes noch immer seltsame Dinge, neulich in einer coolen Off-Galerie beispielsweise. Die übliche Eröffnungsszenerie nimmt ihren Lauf: Digitale Urbanisten stellen ihre virtuelle Stadt vor, an den Wänden hängt Graffiti-Kunst und vor der Tür wird in Anwesenheit einer ungarischen Sonderkorrespondentin ausgiebig diskutiert, ob eine bunt gestrickte Wollmütze schon einen Retro-Nineties-Slacker-Winter macht. Ein hipper Werbetyp, der demnächst nach London geht, zitiert Bataille und Flusser und spricht über barocke Malerei, und Gwen überlegt, ob sie noch ins „Rio“ weiterzieht, wo zuletzt der ironische Münchner Disco-Recycler Christian Kreuz („Koks und Prada“) seinen Berliner Geheimgig gab.

In einem solchen Kontext können drei parallel auf die Schulter der Tresenkraft geklebten Leukoplast-Streifen dann eigentlich nur als letzter Kommentar auf den überbordenden Ego-Marketing-Diskurs gelesen werden. Doch die Wirklichkeit sieht an der Spree noch immer anders aus: „Äh, eigentlich habe ich da Stellen drunter und sonst kratze ich die immer auf“, lautet auf Nachfrage die Replik. Berlin bleibt eben doch Berlin.

GUNNAR LÜTZOW