ALT WIRKEN, MODERN HANDELN – DARIN IST DIE GEWERKSCHAFT PERFEKT
: Streiken, gewinnen und verlieren

Ob die ostdeutschen Metallarbeiter künftig nur noch 35 Stunden pro Woche arbeiten, ist für das Schicksal der neuen Länder völlig egal. Von drei Stunden mehr oder weniger Werken hängt auch das Wohl und Weh der Arbeiter nicht ab. Eine „Gerechtigkeitslücke“ will die IG Metall mit ihrem Streik schließen – ein etwas mächtiges Wort für diese Angelegenheit. Es schadet allerdings auch nichts, wenn die 35-Stunden-Woche kommt. Denn der angebliche Standortvorteil längerer Arbeitszeiten hat weder eine Erwerbslosigkeit von fast 20 Prozent verhindert noch in Scharen Investoren in den Osten gelockt. Die entscheiden nach anderen Kriterien. Wenn Ostminister Manfred Stolpe also unkt, nach einem Streik werde es nur Verlierer geben, trifft das auf Arbeiter und Unternehmen nicht zu. Auf die Gewerkschaften aber schon.

Denn die perfektionieren mit ihrem Arbeitskampf die Fähigkeit, fundamentalistisch zu wirken und pragmatisch zu arbeiten. IG Metall & Co. beweisen im Osten eine zukunftsweisende Flexibilität: Arbeitszeitkonten in der Süßwaren-, differenzierte Lohngruppen in der Chemieindustrie oder Einzelvereinbarungen auf Betriebsebene zeugen davon, dass die Arbeitnehmervertreter wissen, was der Osten braucht. Auch die 35-Stunden Woche beträfe nur Betriebe, die noch tarifvertraglich gebunden sind – und die könnten sich eine Arbeitszeitverkürzung durchaus leisten.

Doch die Auseinandersetzung kommt zu einer Zeit, in der Grundgewissheiten der Republik in Frage gestellt werden – vor allem zwischen Mecklenburg und Sachsen. Denn die Reformen des Sozialstaates treffen besonders die neuen Länder mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit und alternden Bevölkerung – durch Schröders Agenda 2010 mit Kürzungen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder durch die Gesundheitsreform. Starke Gewerkschaften sind dringend nötig – und sie haben das Potenzial und die Erfahrung, sich mit neuen Ideen an diesen Reformen zu beteiligen. Doch in der Debatte um die antiquierte Forderung nach der 35-Stunden-Woche geht das unter. So bleibt den Gewerkschaften mitten in der Sozialstaatsdebatte ihr Blockierer-Image erhalten. Schade eigentlich.

HEIKE HOLDINGHAUSEN