Rückkehr nach Lynchville

Das probate Gegenmodell zu der heutzutage grassierenden Ostalgie, die aus der DDR schicken Lifestyle macht: Angelika Klüssendorf fixiert in ihrer neuen Erzählsammlung „Aus allen Himmeln“ unbarmherzig die desolaten Kindheiten und Familienbeziehungen in der sozialistischen Erziehungsdiktatur

VON OLIVER PFOHLMANN

Die „verflixte Sehnsucht“ nach ihren Geschwistern ist es, die Nelly immer wieder aus dem Kinderheim ausbüxen lässt. In einer Gesellschaft, in der sich jeder dem „Kollektiv“ unterordnen soll, gilt so viel eigensinniges Gefühl als „Krankheit“. Damit zieht die 14-Jährige den Zorn des Heimleiters mit dem sprechenden Namen Stempel auf sich, der ihr „von der sozialistischen Moral und der Pflicht jedes Einzelnen“ predigt. Und der die Ich-Erzählerin, eine junge Praktikantin, die zunehmend Verständnis für Nellys Anderssein gewinnt, damit beauftragt, ein entsprechendes Gutachten über das renitente Kind zu verfassen.

Von den Erzählungen der Sammlung „Aus allen Himmeln“ ist „Eine Krankheit“ die aufdringlichste Kritik an der sozialistischen Erziehungsdiktatur und auch sonst in vielem so originell wie jener Apfel, den Nelly bei einem Ausflug der Praktikantin reicht. Andere, auch ästhetisch interessantere Storys in Angelika Klüssendorfs neuem Buch lassen sich dagegen oft nur durch DDR-Vokabeln wie „Goldbrand“ oder „Konsum“ verorten. Zeitlich spielen sie in den frühen Siebzigerjahren, als Honeckers Konterfei das Ulbrichts ersetzt hatte und im Radio „Am Tag, als Conny Kramer starb“ lief.

Vor drei Jahren wurde die Autorin für ihren ersten Roman „Alle leben so“, einen in der Berliner Nachwendelandschaft spielenden Erzählreigen, landauf, landab gefeiert. Auch diesmal ist ihre Sprache wieder klar und präzise. Aber eben auch ohne Ecken und Kanten, ohne großen Reiz. Ihre zehn Geschichten sind Variationen des Immergleichen, so statisch und trostlos wie das Leben in der geschlossenen Gesellschaft. Sie speisen sich aus einem überschaubaren Set an Motiven, Elementen und Symbolen, darunter so ambivalente wie die Farbe Blau: Blau ist der Himmel, der wie „aufgerissen“ aussieht, als habe er „eine Öffnung“. Aber auch hinter den Honecker-Porträts strahlt ein „allmächtiges sozialistisches Blau“.

Keine Frage, viele dieser Geschichten könnten ebenso in unserer gesamtdeutschen Gegenwart spielen. Gedacht sind sie wohl eher als bitterböse Replik der 1958 geborenen Autorin, die bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig lebte, auf die heute grassierende Ostalgie, die aus der DDR schicken Lifestyle macht. Aus dem heiteren Kessel Buntes holt Klüssendorf unerbittlich die menschliche Tristesse im sozialistischen Alltag. Fixiert unbarmherzig und aus wechselnden Perspektiven die desolaten Kindheiten und verödeten Familienbeziehungen in der „Nischengesellschaft“. Eine wenig erfreuliche Lektüre, bei der sich angewiderte Faszination mit dem Gefühl von Ratlosigkeit abwechselt. Da sind zunächst die Väter und Mütter, Alkoholiker zumeist, misstrauisch, launenhaft und egoistisch. Die auf der Suche nach ein bisschen Lebensglück ihre Kinder sich selbst überlassen. Aufmerksamkeit erhalten diese erst, wenn sie ihren Erzeugern nützlich sein können. In „Yvette Intim“ holt die Mutter ihre Tochter nach einem Kaufhausdiebstahl stolz vom Polizeirevier ab und führt sie vor das Schaufenster eines Juwelierladens. Hat ihr doch selbst „immer der Mut gefehlt, lange Finger zu machen“. Brauchbar sind Kinder auch, weil man sie nötigen kann, jene Zärtlichkeit zu spenden, die die Erwachsenen selbst weder einander noch ihrem Nachwuchs geben können. Pervertierte Rollenverhältnisse: Die Ekelszenen, in denen sich erschöpfte Mütter von ihren Töchtern kratzen und kraulen lassen, am Bauch, Rücken und am Kopf, bis sich die mütterlichen Hautschuppen unter den Fingernägeln sammeln, kehren in Klüssendorfs Geschichten obsessiv wieder. Die DDR, ein einziges großes Lynchville.

Was ebenfalls wiederkehrt, ist der im Mittelpunkt stehende Mädchentyp, kurzhaarig, „mager und nicht besonders hübsch“, „Schneewittchen ohne Tittchen“. Scheinbar ungerührt, mit einer Hornhaut auf der vernachlässigten Seele, verfolgen diese notorisch kleptomanen Mädchen die Anstrengungen ihrer Eltern, dem „Dilemma“ ihres Lebens zu entkommen. Und sehnen sich doch nur nach Zuwendung. In „Hölle oder Himmel“ versucht der lebensüberdrüssige Vater alljährlich zu Ostern sich umzubringen, mit Tabletten, Pilzen oder Gas. Jedes Mal vergeblich und unter den Augen seiner Tochter, die längst keinen Bock mehr hat, hinterher wieder seine Kotze aufwischen zu müssen.

Dass sein „Herumstolzieren vorm Höllentor“ für ihn eine Art Extremsport ist, der als Einziges ihn sich lebendig fühlen lässt, wird die Tochter, die diesmal ihren Vater begleitet, selbst erfahren. Es ist einer der wenigen Glücksmomente in diesen Erzählungen. Zum spärlichen Glück der Kinder gehört auch die Begegnung mit der Großelterngeneration. Mit alten Menschen erleben sie berührende Momente der Intimität. Traumhaft schön ist denn auch die Szene von der Beerdigung einer alten Nachbarsfrau, bei der das Mädchen sein Papierkleid mit schwarzer Tusche bemalt. Aus allen Himmeln fällt der Regen, sprenkelt es schwarz von oben bis unten.

Angelika Klüssendorf: „Aus allen Himmeln. Erzählungen“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004, 142 Seiten, 14,90 €