Unter Druck

Distanziertes Therapieprotokoll: Jörg Böckem erzählt kongenial trist von seinem Leben als Journalist und Junkie

Dieser Stumpfsinn, diese Qual: Junkies und Journalisten kennen Sie gleichermaßen. Was dem einen sein Turkey, ist dem anderen sein Text. Augen zu und durch heißt die Devise, ganz ohne geht es nicht und Erleichterung verspricht allein: der erlösende Druck. Die Anspannung weicht, der Darm entknotet sich und zurück bleibt ein wohliges Gefühl der Leere. Bis zum nächsten Tag, zum nächsten Turkey, zum nächsten Text.

Kein Wunder, dass bei beiden irgendwann die Sinnsuche einsetzt. Und siehe da, die Antworten könnten ähnlicher nicht sein. Beide, Junkies wie Journalisten, setzen auf die erhöhte Dosis, den größeren Druck. Und so landen die einen in der Notaufnahme, die anderen auf der Buchmesse. Beide meist leichenblass. Jörg Böckem hat es besonders hart erwischt. Er war Junkie und Journalist und hat ein Buch geschrieben: „Lass mich die Nacht überleben. Mein Leben als Journalist und Junkie“. Jahrelang hat er ein Doppelleben geführt, ein bürgerliches als Tempo-, Zeit- und Spiegel-Mitarbeiter, ein weniger bürgerliches als Junkie. Ein interessanter Lebensentwurf, sollte man meinen, wie geschaffen für einen Schlüsselroman in eigener Sache.

„Partys und Pornodreh, Karriere und Koma, Haft und Hepatitis“: Was sich in der Verlagsankündigung wie das Exposé des nächsten, nur geringfügig redigierten Thor-Kunkel-Romans liest, entpuppt sich bei genauer Lektüre als Protokoll einer gewöhnlichen Suchtkarriere. Das Grundsetting teilt Böckem mit einer langen Reihe Bücher schreibender Kollegen seiner Generation. Eine westdeutsche Kleinstadtjugend mit Hörspielplatten von „Europa“, Edding-beschrifteten Army-Rucksäcken und frisierten Mofas. Doch wo die Kollegen langsam, aber sicher Richtung Studium oder Journalistenschule abbiegen, um später nur noch für ihre Generations-, Provinz- und Verzichtsbücher zurückzukehren, bleibt Böckem im doppelten Sinne hängen: in Erkelenz, auf Heroin. Er macht folgenschwere Ausflüge nach Amsterdam, hat (kaum verwunderlich) erst Probleme mit dem Abi, dann mit der Polizei und verschleißt, wenn er nicht gerade eine Therapie macht, ein beachtliches Frauen-Personal.

Ein reichlich stumpfes Dasein: „Ich beendete meine Beziehung mit Petra, das Heroin ließ keinen Raum für Sex und Zärtlichkeit.“ Auch für zündende Gedanken lässt es keinen Raum: Böckem versäumt es konsequent, seinen wechselnden Geliebten so etwas wie Leben, seiner Kleinstadt-Junkie-Welt Atmosphäre einzuhauchen. Gegen Mitte des Buches –Böckem ist vorübergehend clean und macht ein Tempo-Praktikum – schöpft man Hoffnung, dass aus dem banalen, fast noch behüteten Junkie-Leben des jungen Böckem endlich das versprochene, literarischen Mehrwert abwerfende Doppelleben wird.

Vergebens: Das Hamburger Medienmilieu gewinnt ebenso wenig an Kontur („In der Tempo-Redaktion arbeiteten ausgewiesene Könner und Exzentriker“) wie die Fernreisen und Star-Interviews Exotik oder Glamour generieren. Auch sein nunmehr fast bürgerlicher Junkie-Alltag wird durch nur knapp eingehaltene Spiegel-Deadlines kaum aufregender. Über allem liegt der Grauschleier eines merkwürdig distanzierten Therapieprotokolls. Sein eigenes Leben: für Böckem so nah und doch so fern.

Dann die späte Erkenntnis: Vielleicht hat er trotzdem saubere Arbeit geleistet, vielleicht kann man das doppelt triste Tretmühlenleben eines Junkies und Journalisten literarisch nicht anders umsetzen. Mit der ehrlichen Absicht, Inhalt und Form in Deckung zu bringen: kongenial trist. CORNELIUS TITTEL

Jörg Böckem: „Lass mich die Nacht überleben. Mein Leben als Journalist und Junkie“. DVA, München 2004, 232 Seiten, 17,90 €