Rau: Beinah hätte ich‘s euch gezeigt

Wie Johannes Rau fast einmal eine kontroverse Rede gehalten hätte – und es dann doch lieber bei freundlichen Worten beließ: Ein kleiner Krimi vom Tag der „Berliner Rede“ mit Stefan Effenberg, „Bild“-Chef Kai Diekmann und dem Bundespräsidenten

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Es war Freitagabend, 18 Uhr, in Potsdam, als Johannes Rau beinahe etwas Mutiges gesagt hätte. Der Bundespräsident war Hauptredner bei dem Festakt zum 50-jährigen Bestehen des Deutschen Kinderschutzbundes. Mit seinem Manuskript riskierte er den Zorn gleich von zwei veritablen Gegnern: den des Rüpels unter Deutschlands Fußballern, Stefan Effenberg, und den der Meinungsmaschine Bild, die Effenbergs Biografie „Ich hab’s allen gezeigt“ bundesweit auf die Litfaßsäulen brachte.

„Herabsetzung und Ausgrenzung, Unfairness, rüpelhaftes Benehmen und rücksichtsloser Egoismus werden immer häufiger salonfähig, sie werden in letzter Zeit sogar als werbeträchtig für den Verkauf von Prominentenbiografien besonders herausgestellt, zum Beispiel unter dem Motto: ‚Ich bin mein eigenes Idol‘ “, heißt es im Text. Doch Rau sprach die kritischen Worte nie. Auf dem Weg zum Rednerpult legte er überraschend sein Manuskript beiseite, sprach stattdessen frei und ohne Effenberg. Die Nachrichtenagentur AP, die die Zitate auf Basis des Texts verbreitet hatte, zog sie am Abend zurück. Was die Angelegenheit zu einem kleinen Krimi macht, ist ein hässlicher Verdacht: Mitarbeiter des Präsidialamts tuscheln, am Freitag habe es einen Anruf der Bild in Schloss Bellevue gegeben. Schwieg Deutschlands Präsident also aus Angst vor Effe und Springer?

Krimis erzählt man am besten der Reihe nach. Während der Präsident schon auf dem Weg in den Potsdamer Nikolaisaal war, saß in Hamburg ein zunehmend verzweifelter Kai Diekmann, Herr über die Bild-Zeitung. „Freitagabend, und wir hatten keine Schlagzeile“, erzählt ein Insider, „dann brennt die Hütte.“ Die AP-Meldung bringt Rettung. Rau, der Erste aller Deutschen, gegen Effenberg, den wüstesten aller Fußballer? Perfekt. Diekmann sieht den Aufmacher schon vor sich: „Was hat Rau gegen Effe?“ Das ist Stoff für viele Tage: Fußballer stellen sich vor Effe, Politiker vor Rau (vielleicht ja auch umgekehrt) und zur Krönung womöglich eine TED-Umfrage. Am Ende wird Effe noch Bundespräsident, wer weiß?

Der erste Zeuge: „Die Bild-Zeitung hat bei mir nachgefragt“, bekannte Schrotthofer gestern. Quellen in der Bild-Spitze bestätigen der taz: Der Anrufer war Diekmann persönlich. Doch den Verdacht, der 72-jährige Präsident könnte vor dem Kraftpaket Diekmann/Effenberg gekniffen haben, weist Raus Sprecher fast entrüstet von sich. Fiel die Drohung mit der Schlagzeile? „Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagt Schrotthofer am Montag über sein Gespräch vom Freitag. Warum schwieg Rau dann? Zeitlich sei die Veranstaltung „etwas aus dem Leim gegangen“, nur deshalb habe der Redner das Manuskript beiseite gelegt. Gabriele Wichert, die zweite Zeugin, widerspricht. Die Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes saß im Saal. „Da ist nix aus dem Zeitrahmen gefallen“, sagte sie gestern der taz. Rau „war pünktlich da, auch die Fotografen haben ihren Fototermin wie geplant um 17.55 Uhr bekommen.“ Musste der hohe Gast früher weg, haben andere Redner überzogen, fielen Blumenvasen von der Bühne? Nein, sagt Wichert, „die Regie war richtig gut“.

Doch weil Rau zu Effe schwieg, musste auch Diekmanns Schlagzeile am Samstag ohne den Präsidenten auskommen: „Effe verlässt Deutschland – warum will Frau Strunz nicht mit?“ Schrotthofer lobt: „Die Bild-Zeitung hat sich völlig korrekt verhalten.“

Und der hässliche Verdacht? Ist nach taz-Recherchen widerlegt – wie in jedem guten Krimi durch eine Überprüfung des Alibis: Als Kai Diekmann in Hamburg um 18.18 Uhr die AP-Meldung auf den Bildschirm bekam, stand der Bundespräsident in Potsdam schon am Rednerpult – ohne Manuskript.