Leben im Kreisverkehr

Die Wahrheit liegt in der Kartoffel: Tim Pears’ Roman „Wach auf!“

Wo ließe es sich entspannter meditieren als auf der Londoner Ringstraße? Auf dem Weg ins Büro verpasst John, ein erfolgreicher, unauffälliger Geschäftsmann mit einem „Gesicht wie aus dem Fotoautomaten“, eine Ausfahrt nach der anderen und lässt sein Leben an sich vorüberziehen. Wie ein Satellit bewegt sich Johns Auto um die Stadt, während sich seine Gedanken im permanenten Kreisverkehr um Kindheit, Karriere und Kartoffeln drehen. Mit seinem Bruder Greg, einem bodenständigen Haudegen, hat der introvertierte, begabte John nach dem Studium in Oxford den Gemüseladen des Vaters zum größten Kartoffelunternehmen Englands ausgebaut. Nun plant er eine neue, gentechnisch veränderte Kartoffelsorte, durch deren Verzehr Kinder in der Dritten Welt gegen einen lebensgefährlichen Darmvirus immunisiert werden sollen. Der Beginn der Zukunft.

Und doch holt die Vergangenheit den Mittvierziger mit Speckröllchen um die Hüften und verstecktem Hang zur Depression an jeder Ausfahrt wieder ein. In scheinbar planloser, assoziativer Abfolge werden Episoden aus Kindheit, Jugend und Familienleben aneinander gereiht: die beruflichen Anfänge und die Studienzeit, die erotischen Abenteuer und die Ehe mit einer New-Age-inspirierten Hippiefrau, der Tod des Vaters und die Geburt des Sohnes. Ob er von den Verdauungsgeräuschen des Babys, von seiner sexuellen Affäre mit der eigenen Schwester oder gentechnischer Manipulation von Nutzpflanzen berichtet, stets schlägt der Ich-Erzähler den gleichen beiläufigen, ironischen Plauderton an.

Mag der ständige narrative Spurenwechsel anfangs irritieren, so fügen sich die einzelnen Puzzleteile nach und nach zur geradlinigen Lebensgeschichte eines Emporkömmlings, der nur hin und wieder aus der Bahn zu geraten droht und am Ende doch immer noch die Kurve kriegt. Wie ein Leitmotiv zieht sich die Kartoffel durch seinen Erinnerungsstrom, mal von der Mutter zerkocht, mal als klassenübergreifendes Nationalgericht Fish and Chips, mal von der weitgereisten Ehefrau in einen exotisch gewürzten, wohlschmeckenden Auflauf verwandelt.

Johns episodenhafte, mitunter etwas arg kartoffellastige Erfolgsstory vom Markthändler zum Unternehmer bietet indes nur die äußere Klammer, die den vierten Roman des 1956 geborenen Oxforder Schriftstellers Tim Pears zusammenhält. Mit spürbarer Lust an absurden Details und Überzeichnungen entwirft der Autor ein schräges Panorama britischen Gesellschafts- und Alltagslebens seit den Siebzigerjahren. Am unteren Ende stehen bleiche, fettleibige Leute in Polyesterkleidung, die in einem „grausamen Gemisch aus Plastik und Neonlicht“ Pommes essen und Bier schlürfen, eine in stinkenden Mietskasernen zusammengepferchte, in die Röhre glotzende Arbeiterklasse, die „an ihrer Beschränktheit auch noch Gefallen findet“. Auf der anderen Seite, zu der die Hauptfigur im Laufe des Romans überwechselt, lebt man in alten verfallenden Herrenhäusern auf dem Land, fährt seine Kinder im Auto mit Vierradantrieb zur Schule und feiert Wohltätigkeits-Gartenpartys.

Bei aller Kurzweil hat der Roman auch seine Längen, vor allem dort, wo der offenbar frisch gebackene Vater Pears sich ausführlich über Hausgeburt und Wehentropf, Windeln und Milchschorf auslässt. Die sonst so scharfen Beobachtungen verwässern da mitunter zu rührseligen Momentaufnahmen eines heiteren Familienglücks. Zwar wird die ganz und gar unromantische Wahrheit über die Zeugung des Babys im letzten Absatz nachgeliefert. Um den Leser wirklich zu überraschen, ist es aber schon zu spät. MARION LÜHE

Tim Pears: „Wach auf!“ Roman. Aus dem Englischen von Michael Schulte. Berlin Verlag, Berlin 2004, 251 Seiten, 19,90 Euro