Der Ironman des Yoga

Jedes Jahr treffen sich Yoga-Fans aus der ganzen Welt zum Kundalini- Festival im Herzen Frankreichs. Rund 800 Menschen aller Denkrichtungen bei der kollektiven Bewusstseinserweiterung des „weißen Tantra“: Dauerblick in die Augen eines Partners

Michel sieht in den Augen seiner Partnerin Bilder seiner Kindheit

von JAN FREITAG

Durch ungeordnete Zeltreihen und singen zu Gitarreklängen. Langsam schälen sich 150 Gestalten aus ihren Schlafsäcken, stapfen auf ein Château zu und errichten davor kleine Lager. Drei Schichten gegen die Kälte von oben, drei gegen die Nässe von unten. Dazwischen frierende Beharrlichkeit – es ist Zeit für Sadhana, die Morgenmeditation. Zeit fürs größte Yoga-Festival Europas. Seit 1976 treffen sich Anhänger des Kundalini im Herzen Frankreichs zur kollektiven Bewusstseinserweiterung. Meditieren, Grenzen suchen, das Innere ausloten, leiden, lachen, weinen, singen. Eine Woche im Sommer zelebrieren die Fans des indischen Sikh Yogi Bhajan die Westvariante der zweitausend Jahre alten Mischung aus Kontemplation und Gymnastik.

Über dem Barockschloss von Fondjouan nahe der Loire geht die Sonne auf. Es riecht frisch, kalt, gesund. Während 600 Festivalgäste schlafen, recken die Frühaufsteher ihre Glieder. Entspannung auf Kundalini, so entspannend, dass sich – auch dank strenger Diät – bald Gase entladen. Statt Frühstück eine Gemüsesuppe mit Bananen, abends ein scharfer Brei aus Bohnen, Reis und Möhren. Dazwischen Wasser oder Tee.

Was nach Masochismus klingt, reinigt den Körper, macht ihn bereit für ein Ereignis, dem Leute aus der ganzen Welt an diesen Ort folgen: Weißes Tantra. „Das zieht dir die Schuhe aus“, meint Simran Singh, dessen spiritueller Name nicht auf seinen kanadischen Pass deutet. 20 seiner 47 Jahre praktiziert er Kundalini. Kein Grund, sich zu quälen: „Sadhana mache ich nur, wenn ich es aus dem Bett schaffe“, sagt er und zupft Chipskrümel aus seinem Vollbart.

Die letzte feste Nahrung vorm Tantra, dem Ironman des Yoga. Über drei Tage verharren die Yogis halbe oder ganze Stunden in einer Position und singen, Auge in Auge mit einem Partner, Mantren. „Eine Frage der Konzentration“, sagt Anja Escherich. Nicht der spirituellen Festigung oder gar der Religiösität. „Das hat mit Esoterik nichts zu tun“, kämpft die Hamburger Künstlerin gegen Vorurteile. Im Camp gebe es viele Zeitgeist-Yogis – „für die ist das eher Ausgleichssport als Lebensphilosophie.“

Ein Blick über das umwaldete Gelände, 70 Hektar mit kleinen Seen und Myriaden von Zelten, gibt ihr Recht. Stahlkocher sucht man zwar ebenso vergebens wie schwebende Makrobiotikerinnen auf Patschuli. Aber ein Querschnitt existiert doch. Zwei, die nichts gemeinsam haben, sind Michel und Sabine. Der holländische Modeltyp und die spröde Ostwestfalin. Den Studenten, 27, und die 14 Jahre ältere Graphikerin verbindet nur eins: Sie sind skeptisch. Vom Tantra kennen sie vor allem Horrorstorys.

Noch ist Zeit, ihre Meinung zu ändern. 72 Stunden voll Yoga-Workshops unter Anleitung der Crème de la Crème des Kundalini. Einzig der greise Yogi Bhajan erspart sich die Anreise aus New Mexico. Bis in die Nacht herrscht Rahmenprogrammhopping und Basaratmosphäre. Spanier tanzen, Italiener gestikulieren, Deutsche mosern übers Essen, Jungs in Camouflage balzen, das Kindercamp brüllt – alle sind ausgelassen.

Dennoch herrscht Disziplin. „Spiritualität ist auch Ordnung“, erklärt Anja Escherich. Um keine Energie aufs Chaos zu verwenden. Nur Felix, der Punk, sorgt für etwas Anarchie. Am Rande betreibt er ein Café, wo selbst Yogalehrer schon mal Melange mit Croissant ordern. Beim Abendessen sitzen sie dann wieder Rücken an Rücken in langen Reihen. Kochen, servieren, putzen – alle machen alles klaglos. Spiritualität verbindet. Und sie verstärkt sich mit jeder Stunde, die das Tantra näher rückt. Am Vorabend wird der Yogitee nervöser genippt und zappelig Turbanbinden geübt. „Jetzt bin ich aber doch aufgeregt“, sagt Sabine. Ob sie es packt? „Eher nicht.“ Michel ist da zuversichtlicher: „Wenn’s alle schaffen.“ Auch seine Suche nach Tantra-Partnerinnen war erfolgreich. Gemischtgeschlechtliche Paare sind nicht obligat, aber sinnvoll. Wegen der Energie.

Am Tag X suchen nur noch wenige. Das riesige Zelt im Herzen des Geländes ist mit Stroh ausgelegt. Hunderte auch noch so erfahrene Yogis richten nervös ihre Lager.

Yogi Bhajan spricht per Video. Zwischen den Bildschirmen Übersetzungsgewirr in etymologischer Geschlossenheit: fünf der zwölf Reihen für Deutsche, drei für Franzosen, eine für Italiener. Dann der Startschuss: 62 Minuten im Schneidersitz, dazu Gesang bei geschlossenen Augen. Die Mantren kommen vom Band. „Etwas lahm“, befinden Profis im viertelstündigen Break. Nicht lahm genug, denken alle, die während der Übung schreien, lachen, weinen und hinterher stöhnen.

Tantra holt einiges raus aus den Leuten. Gerade nach der zweiten Übung. Augen offen, Hände nach vorn. Ständiger Blickkontakt. In der Pause brechen die ersten zusammen. Sabine lächelt mit ihrem Freund um die Wette. Bis zu Übung fünf. „Ich hab Urlaub“, erklärt sie ihren Abbruch, „da muss ich mich nicht quälen.“ Das denkt sie auch am zweiten Tag. Die Reihen haben sich gelichtet. Michel hält durch, er sieht in den Augen der Partnerin Bilder seiner Kindheit.

Michel wird Teil eines Dominoeffekts. Wer da war, will oft mehr und wirbt andere. So schwillt das Festival stetig an. 1976, im nahen Loches, trafen sich 36 Leute in einem Märchenwald ohne Warmwasser. Aber mit mehr Spirit, klagen Veteranen. 2003, im dritten Jahr im komfortablen Fondjouan mit richtigen Unterkünften, werden sie wieder da sein. Im Gegensatz zu Sabine, die Urlaub wie zuvor definiert: Erholung, nicht Überwindung.

Yogafestival 31. 7.–8. 8. Château de Fondjouan, 41230 Mur de Sologne, Frankreich Anfahrt Bahn: Blois, Busshuttle am 31. 7. von 10 bis 16 Uhr alle 2 Stunden Auto: aus Richtung Tours/Paris auf der A10 Richtung Blois, abbiegen Richtung Vierzon, Romorantin, in Mur Richtung Domaine de Fondjouan Mitbringen: Schlafsack, Zelt, Unterlagen zum Meditieren (Decken, Planen), Besteck, Essgeschirr, Wasserbehälter; Nicht mitbringen: Alkohol, Drogen, Zigaretten, Essen Preise Festival: 355 € (Erw.), 665 € (Paar), 115 € (Kinder bis 12), 200 € (bis 18), 305 € (Studis), ohne Vorbestellung jeweils gut 10 Prozent mehr. Unterkunft: Campen umsonst, Zimmer von 50 € (8 Tage Großraum) bis 490 € (Zweibettzimmer), unbedingt vorbestellen. www.yogafestival.org; www.3ho.de