Barkasse auf großer Fahrt

Täglich karrt „Holiday-Reisen“ zwei Busse mit Rentnern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern an die Oder. Zum zollfreien Einkauf. Doch mit dem Beitritt Polens zur EU geht die Ära der Butterfahrten endgültig zu Ende. Eine Abschiedsfahrt für fünf Euro

VON MARTIN REICHERT

Morgens halb zehn in Deutschland, genauer gesagt am Berliner Alexanderplatz. Vom Leben leicht mitgenommen aussehende Menschen stehen vor einem Doppeldeckerbus mit der Aufschrift „Holiday-Reisen“ und rauchen. Doch so, wie es bei dieser Zusammenkunft nicht um Frühstücksnacks der Marke Knoppers geht, sondern eher um Lungenbrötchen von Marlboro, hat auch das Ziel der Reise nichts mit sonnigem Süden und Urlaub im strengen Sinne zu tun: Es geht nach Mescherin an der Oder zur Butterfahrt. Zu einer der letzten. Denn ab 1. Mai wird mit dem offiziellen EU-Beitritt Polens das Offshore-Steuerschlupfloch, in dem die Stange Marlboro nur 12 statt 31 Euro kostet, geschlossen werden. Es wird weniger Grenzkontrollen geben, vor allem aber keinen Duty-Free-Einkauf mehr.

Traurig für die Butterfahrer, weil sie anders als die Knoppers-Esser in der Werbung keine Arbeit haben, sondern von Rente, Arbeitslosen- und Sozialhilfe leben. Hätten sie Arbeit, hätten sie keine Zeit für den Ausflug mitten in der Woche. Und hätten sie Arbeit, wäre die Erhöhung der Tabaksteuer von Anfang des Monats und alle, die nachkommen werden, nicht so schlimm für sie. Wenn das Leben nicht so schlimm wäre, würden sie vielleicht gar nicht rauchen, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Jetzt ist erst mal Abfahrt. Kippe aus, drängeln wie am Schulbus, fünf Euro bezahlen. Busfahrer Wilfried Vogel begrüßt über Mikrofon die Fahrgäste, während er die Prenzlauer Allee stadtauswärts fährt. Sein Chef Reinhard Rau, Besitzer von Holiday-Reisen, wird demnächst mindestens fünf Leute entlassen, denn ab 1. Mai werden ihm täglich 300 Fahrgäste fehlen.

Die meisten im Bus sind schon oft mitgefahren. Sie wissen, dass man sich anschnallen muss und die Bordtoilette nur im Sitzen benutzen darf, auch Letzteres aus Gründen der Sicherheit, denn die anwesenden Herren sind ganz gewiss Stehpinkler. Eine Dame im vorderen Teil des Oberdecks hat ein eigenes „Schuppenkissen“ aus blauem Frottee für den Sitz mitgebracht, auf das sie ihre Minipli-Dauerwelle bettet, und erzählt ihrer Nachbarin, dass sie ihre Medikamente immer in Polen kauft. „Rennie“ für den Magen kostet dort nur drei statt vier Euro und 25 Cent. Die Sitznachbarin erwidert, dass polnische Spalt-Tabletten viel billiger und zudem trotzdem aus deutscher Herstellung sind: „Meine Nachbarin hat die gleich pfundweise gekauft“, weiß die Dame. So geht es in einem fort, doch schon nach kurzer Zeit ist die Lehrstunde in Sachen Schnäppchen unterbrochen, der Rastplatz Buckow-Tal erreicht: „Gesundheitspause“, dröhnt es aus dem Lautsprecher. Fast alle verlassen den Bus und rauchen erst mal eine.

Nach der fünfzehnminütigen Unterbrechung zischen im hinteren Teil des Busses die ersten Bierdosen. Es ist noch keineswegs zwölf Uhr. Dann erreicht der Doppeldecker Mescherin und rumpelt über Kopfsteinpflaster in Richtung Hafen. Der Busfahrer weist noch einmal darauf hin, dass der Zoll derzeit besonders „scharf“ sei, wahrscheinlich weil er an dieser Grenze demnächst überflüssig wird. „Jeder darf nur eine Stange Zigaretten mitbringen“, mahnt der Fahrer.

Daraufhin fällt Sitznachbarin Melanie V. (32), zurzeit krankgeschrieben, ein, dass sie ihren Pass am Vorabend im Fitnessstudio am Gendarmenmarkt vergessen hat. Als Pfand abgegeben. Sie war zum ersten Mal im Fitnessstudio – und noch nie in Polen. Mit Polen wird es auch heute nichts werden. Sie bekommt zwar von freundlichen deutschen Grenzern einen Ersatzausweis für acht Euro, aber das Nachbarland wird sie nur vom Schiff aus zu sehen bekommen.

Bedingt durch die Passkomplikationen ist Melanie V. ausgerechnet die Erste an Bord der „König Ludwig“ und verteidigt die Plätze wie eine Löwin gegen die anstürmenden Duty-Free-Shopper. Die Profis unter ihnen haben transportable Aschenbecher mitgebracht, die gibt es sonst nur gegen einen Euro Pfand, weil sie immer geklaut wurden. Inmitten des Gerückes und Geschiebes ertönt eine freundliche Ansage über Lautsprecher, doch bitte kein Essen in die Oder zu werfen, „weil das nicht gut ist“. Es ist einfach nicht gut.

Vielleicht auch, weil die Oder heute ohnehin Hochwasser führt. Dadurch ist das Gelingen der Butterfahrt in Gefahr: Das Schiff ist bereits vom deutschen Zoll verplombt worden, wenn wir jedoch Duty-Free-Status erreichen wollen, müssen wir erst unter der Mescheriner Brücke durch, um die nächste Oder-Ecke außer Sichtweise biegen, umdrehen und dann an der polnischen Grenzstation Halt machen, wo wir entplombt werden. „Wir bitten alle Männer auf das Vorderdeck“, erschallt es aus dem Bordlautsprecher, und tatsächlich drängt ein großer Teil der Expedition in Richtung Bug. Der Rest steht Schlange nach Korn und Bier, Self-Service. Auf dem Vorderdeck blickt nun alles gespannt auf den Kapitän, der sich zentimeterweise in Richtung Brücke vortastet. Es wird viel geraucht. Unter der Brücke schreit die Hälfte der Herren „Fahr doch!“, die andere Hälfte „Stopp!“. Der Kapitän stoppt und lässt die „König Ludwig“ zurückfallen. Beim zweiten Anlauf müssen die Korntrinker mit ran und auch die Frauen. Diesmal klappt es, und es wird geklatscht wie bei der Landung auf Mallorca. Der Kapitän lacht, demnächst wird er wahrscheinlich entlassen. Die Reederei Peters aus Ueckermünde hat bislang einen Großteil ihres Umsatzes mit Duty-Free-Fahrten gemacht.

Im Oberdeck des Ausflugsdampfers ist die Luft mittlerweile zum Schneiden vor lauter Zigarettenrauch. Nach dem Startschuss, also der Entplombung, verlagert sich die Schlange vom Tresen in Richtung Unterdeck, wo sich der Shop befindet.

Doch Micha W. (56) aus Ostberlin bleibt erst mal ruhig. Er ist hier, um Zigaretten für sich und verbilligten Whiskey für den Schwager zu kaufen, der bald Geburtstag hat. Micha W. ist von Beruf Hauswart und möchte nicht, dass sein Name in der Zeitung steht: Er ist seit zwei Jahren krankgeschrieben. „Eigentlich ist das hier ein Armutszeugnis“, sagt er und trinkt einen Schluck Bier. „Schauen Sie sich doch mal diese Leute an, arbeiten nicht und saufen nur“, sagt er. In Berlin hat er immer nur Sorgen, mit dieser Fahrt wollte er sich mal ein wenig „Amüsemang“ verschaffen. Aus den Lautsprechern ertönt „Ganz oder gar nicht“ von Wolfgang Petri.

Im Shop gibt es Butter, aber die kauft keiner. Stattdessen liegen hauptsächlich Alkohol – Wodka bereits ab fünf Euro die Flasche – und Zigaretten im Einkaufskorb, die Stange Pall Mall heute für sieben Euro. Dafür lohnt sich das endlose Schlangestehen: inklusive Fahrtkosten und einer Tasse Kaffee an Bord hat die Stange Zigaretten gerade mal 13,40 Euro gekostet, deutlich weniger als die Hälfte der Summe, die in Berlin zu zahlen gewesen wäre. Es gibt auch Jeansjacken für zehn Euro, T-Shirts für einen Euro, Schokolade in allen Variationen. Der Verzehr von mitgebrachten und im Shop gekauften Waren an Bord kostet 20 Euro Korkengeld, also Strafe. Nach dem Shoppen ist die Butterfahrt so gut wie vorbei, die nächste Schlange bildet sich erneut am Tresen, wo es das Gläser- und Aschenbecherpfand zurückzufordern gilt.

Stammfahrerin Hildegard T. (53), Sozialhilfeempfängerin, ist ziemlich traurig über das baldige Ende der Butterfahrten: „Ich bin einmal die Woche gefahren, mittlerweile kenne ich hier viele, und es macht jedes Mal Spaß.“ Sie überlegt nun, das Rauchen aufzugeben.

Die freundliche Ansagerin verabschiedet die Gäste per Lautsprecher: „Ihr wart wieder mal großartig.“ Dann bittet sie, die Aschenbecher nicht auf dem Boden zu entleeren, beim letzten Mal habe das Schiff ausgesehen wie ein Schweinestall. Das ist nicht gut. Gedränge beim Verlassen des Schiffes, die scharfen Zöllner kontrollieren überhaupt nix. Letzte Gelegenheit zum Schlangestehen am Fischstand neben den wartenden Bussen.

Ein Butterfahrer mit Hertha-Mütze und FDJ-Anhänger will auf keinen Fall fotografiert werden wegen des Datenschutzes. Er will den Film haben und treibt damit die konspirative Atmosphäre dieser Butter-Törn, bei der niemand seinen Namen genannt wissen will, auf die Spitze. Während der Rückfahrt nach Berlin macht der Hertha- und FDJ-Fan eine Kollekte für den Busfahrer, der sich artig und über Mikrofon bedankt: Er werde heute Abend ein Feierabendbier trinken. Eines nur, denn: „Nach der Fahrt ist vor der Fahrt“. Noch.

Odertal-Tagesfahrten täglich um 7 und 9.30 Uhr ab Alexanderplatz. Buchung: Holiday-Reisen; Tel. 88 42 07 77