Der Abschied von den Toten

117 Tote sind bereits identifiziert. Jetzt beginnen die Beerdigungen und die Zeit der Trauer. Noch lange wird Madrid nicht zum Alltag zurückkehren

„Er fuhr mit dem Zug nach Madrid. Und in ein paar Stunden werden sie ihn begraben“„Ich habe keine Angst, den Zug zu nehmen. Das ist doch alles Schicksal“„Man zeigt sich solidarisch. Aber zum Schluss sind die Leute mit ihrer Trauer allein“

AUS MADRID ANTJE BAUER

Die Trauerhalle an der Umgehungsstraße M 30 ist voller Menschen. Angehörige und Freunde der Toten. Sie stehen verloren da, in dunkler Kleidung, sie reden mit gedämpfter Stimme. „Wir haben jetzt schon 17 Tote hier“, sagt eine Dame am Empfang, „die werden uns vom Messegelände zugestellt, sobald sie identifiziert sind.“

Die Angehörigen kommen her, nehmen von den Opfern Abschied, und dann werden die Leichen zu ihren Herkunftsorten überführt und dort begraben. Es muss zügig gehen. „Es kommen ja schließlich ständig neue Leichen“, erklärt die Dame.

Von einer Halle gehen zahlreiche kleine Räume ab. In einem dieser Räume liegt Alvaro de Miguel Jimenez, 26 Jahre alt, ledig. Er war Angestellter bei einer Baufirma. Jetzt liegt er in einem Zinksarg aufgebahrt, nur sein blonder Haarschopf und ein wächsernes Gesicht sind zu sehen. „Wir wohnen in Santa Eugenia, und er fuhr jeden Tag mit dem Vorortzug nach Madrid“, sagt Eusebio Jimenez. Die Augen von Alvaros Onkel sind gerötet.

„Gestern haben wir im Fernsehen von dem Unglück erfahren, haben ihn auf dem Handy angerufen und keine Antwort bekommen, dann haben wir in der Firma angerufen, da war er auch nicht, dann haben wir die Krankenhäuser abgeklappert und ihn nicht gefunden.“ Schließlich sind sie auf das Messegelände gefahren, wo man die Opfer der Anschläge hingebracht haben. Bis in die Nacht hinein hat die Familie dort gewartet. „Dann haben wir erfahren, dass Alvaro unter den Toten ist.“

In ein paar Stunden werden die Angehörigen den Leichnam nach Santa Eugenia zurückbringen und ihn dort begraben. „Es ist furchtbar“, sagt seine Mutter, eine kleine Frau ganz in Schwarz, „da ist so ein junger Mensch und hat sein ganzes Leben noch vor sich, und plötzlich ist er tot, und ohne jeden Grund.“

Auf den ersten Blick scheint Madrid am Tag nach den Anschlägen wieder zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Der Verkehr rauscht, die U-Bahnen sind voll, die Menschen sind zur Arbeit gegangen. Am Platz vor dem Unglücksbahnhof Atocha sind Bauarbeiter zugange, ein Blinder verkauft Lottoscheine, ein Penner eine Straßenzeitung.

Die Bahnsteige, an denen am Donnerstagmorgen die Unglückszüge ankamen, sind leer. Noch immer sind gelb gekleidete Menschen damit beschäftigt, die letzten sichtbaren Reste der Tragödie zu beseitigen. Doch auf den Nachbargleisen stehen schon wieder Passanten und warten auf den Vorortzug, die einfahrenden Bahnen entlassen große Trauben von Menschen.

„Ich habe keine Angst, den Zug zu nehmen“, sagt Valentina Terradillos, die vom Vorort Parla nach Madrid gekommen ist, weil sie an diesem Tag einen Behördengang erledigen musste. „Das ist doch alles Schicksal. Wenn es einen erwischen soll, dann kann das genauso gut auch zu Hause passieren.“

Rufino Alamaeda ist auf dem Weg zum Busbahnhof, „da war es praktischer, den Vorortzug zu nehmen als die U-Bahn“. Am Donnerstag war er auch hier und hat nach seinem Bruder gesucht, der mit dem Unglückszug gefahren ist. Aber er hatte Glück. „Meinem Bruder ist nichts passiert.“

Doch der Alltag ist noch lange nicht nach Madrid zurückgekehrt. Immer wieder wird das in den Gesprächen mit Madrilenen und in Szenen rund um die Anschläge deutlich. Um zwölf Uhr versammelten sich die Angestellten der Bahngesellschaft sowie zahlreiche Passanten vor dem Bahnhof Atocha, um zehn Minuten lang der Opfer des Anschlags zu gedenken. Mitten während der Gedenkminuten beginnt mit einem Mal die Menge in alle Richtungen zu rennen. Die Polizei sperrt den Bahnhof, Spürhunde werden herbeigebracht, ein Hubschrauber kreist oben, Ambulanzen und polizeilicher Nachschub kommen mit Sirenengeheul herbeigefahren.

„Da kannst du mal wieder sehen“, sagen zwei jungen Leute zueinander, die auf dem Mittelstreifen das Geschehen beobachten, „die Polizei kriegt nichts auf die Reihe, die können uns noch nicht mal schützen.“ Nach zehn Minuten Panik löst sich die Menge wieder auf, kehrt in die Busse und in den Bahnhof zurück.

Zurück auch an den Ort der Trauer im Bahnhof, an dem hunderte Kerzen und Teelichter stehen und Blumensträuße abgelegt worden sind: „Es reicht, Schluss mit dem Terrorismus“ steht auf einem der zahlreichen Zettel, die Passanten dort ablegen. „Ich arbeite im Krankenhaus Gregorio Marañon“, sagt eine ältere Frau, „ich habe die Verletzten gestern gesehen. So was vergisst man nie wieder. Jetzt wollen sie damit noch Politik machen, so kurz vor den Wahlen“, sagt sie und deutet abfällig auf eine kleine Gruppe Politiker, die sich in einer Traube Journalisten zu dem Gedenkort begeben haben. „Aber es ist doch egal, wer das nun war. Die Leute sind tot.“

Am Freitagabend wollte sie von diesem Bahnhof aus nach Barcelona fahren, doch die Fahrkarte hat sie erst mal wieder zurückgegeben. „Kein gutes Gefühl“, sagt sie.

Die Menschentrauben vor den Krankenhäusern sind verschwunden, dafür herrscht auf dem Messegelände außerhalb von Madrid ständiges Kommen und Gehen. Hierher wurden die Leichen der Opfer des Anschlags gebracht, hier werden sie identifiziert, hierher kommen alle Angehörigen, die ihre Vermissten nicht erreichen konnten und sie auch nicht in einem der Krankenhäuser gefunden haben. 117 Tote sind inzwischen identifiziert, manche sind aber so entstellt, dass nur noch eine DNA-Analyse weiterhilft.

Scharen von Journalisten haben sich vor dem Eingang dieses Pavillons aufgebaut und richten ihre Kameras auf die Familienangehörigen, die den Aufbahrungssaal mit roten Augen verlassen. „Ich habe einen Freund verloren“, sagt ein älterer Mann. „Da gibt es nichts zu kommentieren.“ Die Taxifahrer, die vor dem Ausgang in langer Schlange warten, haben ein großes weißes Schild an der Windschutzscheibe angebracht: „Angehörige von Opfern werden umsonst befördert.“ – „Man muss sich ja solidarisch zeigen“, sagt ein Taxifahrer, „aber zum Schluss sind die Leute mit ihrer Trauer dann doch allein.“