Schüleraustausch fällt aus

Um das Abitur in zwölf Jahren zu erreichen, verzichten viele Hamburger Schüler auf ein Auslandsjahr. Dabei wird dieses im Lebenslauf allseits geschätzt. Die Hamburger Schulbehörde will mit einer Informationskampagne gegensteuern

VON MART-JAN KNOCHE

Der Gymnasiast Dennis K.* würde in diesen Tagen wohl eine Schule irgendwo in Kanada besuchen, würde morgens durch Montreal oder Toronto fahren und sich längst als halber Kanadier fühlen. Aber nun fährt der 16-Jährige auch in der elften Klasse weiter seinen gewohnten Schulweg durch Hamburg-Alsterdorf. Denn die Lehrer rieten Dennis und seinen Eltern ab, ein Austauschjahr im Ausland einzulegen.

„Weil das Abitur von drei auf zwei Jahre gekürzt wurde, hätte ich die Elfte nicht überspringen dürfen. Deshalb hat man uns das nicht empfohlen“, sagt er heute. Das geschah im vergangenen Schuljahr 2007 / 2008, kurz bevor das achtjährige Gymnasium eingeführt wurde. Da drückte der heutige Abiturient noch als Zehntklässler die Schulbank.

Jugendaustauschorganisationen warnten stets vor solchen Fällen, vor einer allgemeinen Verunsicherung, die die Verkürzung der Gymnasialzeit bei Austauschinteressierten hervorrufen würde. Nun veröffentlichte die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung aktuelle Zahlen – die bösesten Vorahnungen noch übertreffen: Rund fünfzig Prozent weniger Schülerinnen und Schüler verbringen 2008 / 2009 ein Austauschjahr im Ausland. Trauten sich im vorigen Schuljahr noch 782 Jungs und Mädchen, so fanden sich jetzt nur 409, die sich aufmachten, die Welt zu erobern. Dabei gilt der einjährige Schulaustausch gemeinhin als kostbarer Baustein in der kulturellen Bildung der Jugendlichen.

Als einen „bedauerlichen Nebeneffekt“ der Schulzeitverkürzung bezeichnet Klaus Bullan, der Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in Hamburg, das Phänomen. Bisher sei das Austauschjahr meist zu Beginn der Oberstufe eingelegt worden. „Damit man bei guten Noten ein Jahr überspringen konnte“, so Bullan. Weil das dreizehnte Schuljahr abgeschafft wurde, sei diese Möglichkeit jetzt verbaut.

Die Ziele des „Turbo-Abiturs“ werden so konterkariert. Weil die elfte Klasse nicht mehr anerkannt wird, wenn sie im Ausland besucht wird, sind die SchülerInnen nun gezwungen, sie nach ihrer Rückkehr zu wiederholen – ihr Abitur also weiterhin nach dreizehn Jahren abzuschließen. Ein Nachteil im Empfinden vieler Eltern und Schüler. Ihnen wurde ja gerade der Zeitgewinn als Vorteil von G8 verkauft. „Man sollte sich bloß nicht vom Zeitdruck anstecken lassen“, rät Klaus Bullan. Viel wichtiger seien die „kulturellen und sprachlichen Qualifikationen“, die ein Austauschjahr vermittele.

In der Hamburger Schulbehörde sieht man das wohl ähnlich. Eilig berief Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL) vergangene Woche eine Krisensitzung ein – noch vor Veröffentlichung der besagten Statistik. Geladen waren Vertreter mehrerer Austauschorganisationen. „Es wird eine Informationskampagne in den nächsten Monaten gestartet“, sagt Sprecher Armin Oertel. Damit sollen Eltern, Schüler und beratende Lehrer erreicht werden. Unter anderem soll ein Flyer aufklären, wie ein Austausch auch im am achtjährigen Gymnasium ohne Stress möglich ist. Die Diskussion um die Schulzeitverkürzung solle man jedoch nicht an dieser Problematik aufhängen, sagt Oertel. „Noch wissen wir nicht, wie die Zahlen im kommenden Jahr aussehen.“

Informationsmangel ist für die Organisationen tatsächlich das Kernproblem. „In den Schulen weiß man oft nicht, dass Alternativen existieren“, sagt Wiebke Bretting von Youth for Understanding. Das Austauschjahr könne ebenso gut ein Jahr früher, in der zehnten Klasse eingelegt werden. Dann wird der Schulbesuch im Ausland weiterhin anerkannt – und die Schülerinnen und Schüler kehren in ihren alten Klassenverband und Freundeskreis zurück.

Beim Austauschveranstalter AFS ist dieser Trend bereits erkennbar: „Bereits die Hälfte unserer diesjährigen Teilnehmer gingen während der zehnten Klasse ins Ausland“, sagt eine AFS-Sprecherin. Und die aktuellen Bewerbungen zeigen: Im kommenden Jahr wird es ähnlich sein.

Ein Hoffnungsschimmer für wieder steigende Zahlen ist auch die „Profiloberstufe“. Diese zweite umstrittene Reform des Abiturs tritt in Hamburg 2009 in Kraft – und hat zunächst wohl zum Einbruch der Zahlen beigetragen. Die Rückkehrer wären in diesem „neuen Experimentierfeld“ gelandet, wie es bei der Elternkammer heißt. Ist die Profiloberstufe erst eingeführt, dürfte dieses Problem dann aber vom Tisch sein.

Für vierhundert Jugendliche ist es allerdings zu spät: Sie blieben 2008 verunsichert in Hamburg und verzichteten auf die Chance, sich bereits in jungen Jahren echte Weltgewandtheit anzueignen. Dennis K. zählt zu ihnen. In seinem Lebenslauf bleibt das Austauschjahr in Kanada ein unsichtbares Vorhaben im Schuljahr 2008 / 2009, ein verworfener Plan. Damals, kann er heute mit Ironie sagen, riet man mir in der Schule von einem Schüleraustausch ab.

Er will nun versuchen, den Auslandsaufenthalt irgendwie nach dem Abitur unterzubringen: Im Bachelor-Studium. Das allerdings ist ebenfalls drastisch verkürzt worden.

*Name geändert