Leipzig als Osteuropas Exklave

Institut schlägt in der Region Niedriglohnsektor für tschechische und polnische Billiglöhner vor. Angeblich könnten so 30.000 neue Arbeitsplätze entstehen

DRESDEN taz ■ Leipzig, hoch verschuldet und mit knapp 20 Prozent von der höchsten Großstadt-Arbeitslosigkeit in Sachsen betroffen, hat seine ganz spezielle Aufschwung-Idee entwickelt: Nachdem zuletzt BMW und Porsche in den Großraum Leipzig geholt werden konnten, sollen auch die als zukunftsträchtig geltenden Automobilzulieferer einen besonderen Anreiz bekommen. In einer von der Stadt in Auftrag gegebenen Studie schlägt das Gelsenkirchener Center Automotive Research CAR vor, einen Niedriglohnsektor für polnische und tschechische Billiglöhner einzurichten. Eine so genannte Auto-Regio-Green-Card soll die rechtlichen Aufenthaltsvoraussetzungen schaffen.

Auf 30.000 neue Arbeitsplätze im Mittelstand in den nächsten zehn Jahren hofft Leipzigs Wirtschaftsbürgermeister Detlef Schubert (CDU), der sich die Idee sogleich zu Eigen machte. Dafür müssten die Zulieferunternehmen allerdings aus den derzeitigen Tarifstrukturen herausgelöst werden. Bislang bevorzugen sie eher den grenznahen europäischen Osten, wo die Arbeitskosten niedriger liegen. Deshalb sei es sinnvoll, den Arbeitsmarkt gezielt für Arbeitssuchende aus den Beitrittsländern zu öffnen. CAR-Studienleiter Ferdinand Dudenhöffer erklärte, der Großraum Leipzig und überhaupt ganz Sachsen hätten einen Standortvorteil: „Hier steht man direkt an der Grenze zu den größten Wachstumsmärkten in Osteuropa und Asien.“ Im Vergleich etwa mit Baden-Württemberg und Bayern schneide Sachsen in der Gunst der Zulieferer bereits jetzt gut ab.

Auffällig ist der Zeitpunkt des Vorschlags: Derzeit kämpft die IG Metall mit ihrer 35-Stunden-Forderung zumindest um eine Angleichung der Ost-West-Arbeitszeiten.

Die SPD in Sachsen mag denn auch nicht recht glauben, dass ihr potenzieller Spitzenkandidat, Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, hinter der Idee steht – immerhin hatte er die Studie in Auftrag gegeben. Nun zieht er sich darauf zurück, dass es sich lediglich um Empfehlungen handle. Die „überraschenden Ergebnisse“ der Studie seien nicht mit der Stadt abgestimmt und müssten gründlich diskutiert werden.

Der sächsische DGB-Chef Hanjo Lucassen, der auch SPD-Landtagsabgeordneter ist, zweifelte am wissenschaftlichen Verstand der Autoren. Leipzig könne als Billigstandort nur verlieren. Arbeitsmarktexperte Karl-Friedrich Zais von der SPD-Landtagsfraktion warnte davor, Arbeiter verschiedender Herkunft gegeneinander auszuspielen.

Ganze 435 normale Green Cards sind in Sachsen bislang ausgestellt worden. Tschechische und polnische Arbeiter gelten als bodenständig und zumeist minder qualifiziert. Außerdem haben sich die Löhne in der nordböhmischen Automobilregion bis auf 70 Prozent den sächsischen angenähert. Wer also würde auf das Leipziger Angebot überhaupt eingehen? „Gut ausgebildete Interessenten gehen gleich für gutes Geld in den Westen“, schätzt Joachim Racknitz vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle.

Wolfgang Gerstenberger von der Dresdner Filiale des ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts lässt ungewollt die Katze aus dem Sack: Die Idee eines Leipziger Niedriglohngebietes ziele über den Umweg des preiswerten Osteuropäers vermutlich doch eher auf die deutschen Arbeitnehmer. MICHAEL BARTSCH