berliner szenen Der weiße Jaguar

Ordnung zerfällt

In der strengstkontrollierten Parkzone Berlins, unweit vom Strandbad Mitte, stand seit November ein weißer Jaguar. In den ersten zwei Wochen betrachtete ich ihn, wann immer ich an ihm vorbeiging, als ein Zeichen der nach wie vor prosperierenden Neuen Mitte. Doch bald sollte ich mich schämen für derart überholte kulturkritische Gedanken. Als er nämlich in der dritten Woche immer noch an gleicher Stelle parkte, fiel mir sein bescheidenes Innenleben auf: ein alter Strohhut hinten auf der Ablage, eine gestreifte Plastiktasche auf dem Rücksitz. Auch andere verloren den Respekt. Eines Tages fand ich den Jaguar tiefer gelegt, mit zerstochenen Reifen. Er tat mir Leid. Der erste Schnee fiel und deckte ihn zu.

Als es im Januar auf der Windschutzscheibe taute, klebte dort bald ein runder gelber Sticker mit der Aufforderung zur Kfz-Entfernung. Oft wiesen Pfeile von beweglichen Halteverbotschildern vorwurfsvoll jaguarwärts. Aber der Wagen blieb. Sein Besitzer auf Weltreise? Opfer einer Pleite gegangenen Start-Up-Firma? Tot? Die Symbolhaftigkeit der Reliquie einer versunkenen Zivilisation senkte sich aufs Wagendach wie einst der Schnee. Würden bald Löwen durch die Auguststraße streifen, der Himmel sich verfinstern? Doch der Zerfall der Ordnung hielt sich in Grenzen: Mein Jaguar erhielt weiter Strafzettel und wurde abgeschleppt. Jetzt fehlt er mir.

Gerade jetzt im Frühling, gerade, als er zwischen all den Galerien eine heitere Hausbesetzeraura zu verbreiten begann und man die ersten Party-Flyer auf seine Windschutzscheibe klebte, haben sie ihn geholt. Aufgeladen auf einen Abschleppwagen, zusammen mit einem alten weißen Mercedes, wie Augenzeugen berichten. Ein großer Ölfleck versickert im Asphalt. JULIE MIESS